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Italien ist anders – Interview mit TR von Spielverlagerung

Italiens Fußball hat wohl definitiv schon bessere Zeiten gesehen. Die großen Stars werden in der Serie A immer seltener, wirtschaftlich hinken die Vereine hinten nach. Sportlich könnte man dennoch mehr aus dem vorhandenen Material rausholen hat man das Gefühl.

TR von spielverlagerung.de sprach mit uns deshalb in einem sehr ausführlichen Interview über die aktuelle Lage der Serie A, den „Pirlo way of life“ und vieles mehr.

Er hält etwa Kritik für durchaus angebracht, sieht in der etwas eigentümlichen italienischen Spielweise aber nichts Schlechtes und will daher noch keinen Abgesang starten.

Der italienische Fußball steckt in einer Krise. Das liegt einerseits an wirtschaftlichen Aspekten, die Krise hat womöglich aber auch taktische Gründe. Stimmst du zu, dass sich die Serie A in den letzten Jahren weitaus weniger weiterentwickelt hat als andere Topligen?

Sicherlich hat die Serie A kein derartiges Niveau im Pressing wie beispielsweise die Bundesliga, die dort über die letzten Jahre zu einem Vorreiter geworden ist. Allerdings hat sie sich im Gesamtvergleich keinesfalls weniger entwickelt als die anderen großen Ligen als Gruppierung. Auch anderswo gibt es gewisse Schwachpunkte – so würde ich beispielsweise in England nicht bedeutend mehr Fortschritt sehen als in Italien, ohne dadurch angebrachte Kritikpunkte relativieren zu wollen. Denn die sind in Italien durchaus da.

Große Stars findet man in Italien immer weniger. Wie sehr bereitet denn die fehlende Qualität den Trainern Probleme?

Vielleicht wird dieser Aspekt bei den Diskussionen um die Serie A manchmal ein wenig vergessen – definitiv ein interessanter Faktor. Insgesamt dürfte es ein kleiner, zusätzlicher Punkt in den kausalen Zusammenhängen sein.

Trotzdem hat die Serie A aber immer noch interessante Spielertypen und gerade viele etwas unbekanntere Akteure, die aber über enormes Potential und dabei eine sehr breite Fähigkeitenpalette verfügten. Solche Leute wie beispielsweise Pogba, Kovacic, Felipe Anderson, Ljajic oder Sansone gilt es für die Serie A nun noch besser einzubinden.

Italien gilt immer noch als Land der Taktiker. Spieler, die nach Italien wechseln bezeichnen die viele Arbeit mit Taktik oft als größte Umstellung. Wie sehr merkt man diesen traditionellen Ruf noch am Platz?

An dieser Stelle muss ich erst einmal einhaken. Dass es diesen Ruf für Italien überhaupt gibt, hängt zu großen Teilen auch mit einer falschen Gesamtwahrnehmung von „Taktik“ zusammen. Vielerorts wird sie eher mit Defensivtaktik gleichgesetzt, woher auch der im Fernsehen häufige Spruch des „0:0 als Spiel für Taktikliebhaber“ rührt.

Dagegen ist das Bewusstsein dafür, dass das Offensivspiel ebenso entscheidend mit Taktik in Verbindung steht und viele ansehnliche oder gar berauschende Angriffe taktisch bedingt sind, sehr gering.

Von daher ist das Klischee „Italien als Land der Taktik“ ein etwas zweifelhafter Ruf, der durch den negativen, ablehnenden Stereotyp des „defensiven“ Italieners genährt wird. Trotzdem ist die italienische Liga taktisch und auch strategisch stark. Das zeigt sich beispielsweise an der systematischen Herangehensweise und der Bewusstheit dafür, den formativen Spielereien oder der grundsätzlichen Stabilität.

Arrigo Sacchi spricht z. B vom “hinten reinstellen und dann schauen” und von “Ansammlungen am eigenen Strafraum” – was auch einige Klischees bestätigt – und sieht in diesem insgesamt recht hohen Fokus auf eine erfolgreiche Strafraumverteidigung große Probleme. Ist seine Kritik berechtigt?

Das ist auf jeden Fall erst einmal ein interessanter und diskussionswürdiger Punkt. Viele Mannschaften in der Serie A folgen eben einer solchen oder einer vergleichbaren Spielweise mit eher geringer Intensität, was zu einem der Charakteristika ihres Stils geworden ist. Dagegen gibt es nicht diese Pressingqualität, wie man sie beispielsweise in Deutschland kennt – das ist zu Teilen ein Problempunkt, aber insgesamt nichts, was direkt katastrophal ist.

Der Weg, die Dinge über tiefere Defensivaktionen anzugehen, ist ein anderer, kann aber auch erfolgreich sein und hat das schon gezeigt, so beispielsweise in einigen EM-Partien 2012. Zumal die meisten Teams mit einer solchen Ausrichtung diese Orientierung auf die Strafraumverteidigung wirkungsvoll umsetzen und auch tatsächlich jene tiefe Stabilität generieren, die damit intendiert wird.

Problematische Auswirkungen entstehen durch den Fokus auf die Strafraumverteidigung erst, wenn dadurch Versuche von höherem, kollektivem Pressing in ihrer Ausführung negativ beeinflusst sind, da noch die tiefe, absichernde Orientierung in den Bewegungsmustern mitschwingt. Beispielsweise bei Mazzaris Inter war das am Ende zunehmend ein Problem und auch von anderen Mannschaften gab es in dieser Hinsicht – gerade wenn noch einige Mannorientierungen dabei waren – schon derartige Partien zu sehen.

Ein zweiter möglicher Nachteil dieser Defensivspielweise liegt in ihren Folgen auf den Spielrhythmus. Wenn der Gegner im zweiten Drittel simpler aufrücken kann, wird die Begegnung als solche etwas offener, teilweise auch unstrukturierter in ihrem Charakter und manchmal verändern sich die Zonenstrukturen ein wenig.

Zudem gibt es in tieferen Stellungen weniger Optionen und Beeinflussungsmöglichkeiten für die verteidigende Partei. Am Ende auch hier aber noch einmal eine Einschränkung: Die Differenzierung zwischen reiner Strafraumverteidigung und kompakter Ausrichtung in den tieferen Übergangszonen, die es durchaus bei vielen italienischen Teams zu sehen gibt – und das auch in ordentlicher Ausführung.

Das als typisch italienische geltende 4-3-2-1 – auch bekannt als „Tannenbaum“ – steht dabei als bestes Sinnbild für den sehr prägenden Zentrumsfokus im Defensivspiel, mit dem der Gegner nach außen weggleitet werden soll.

Im Oktober 2014 lieferten sich Juventus und die Roma ein sehr überzeugendes Spitzenspiel, in dem das ein wichtiger Aspekt war. Gegen die jeweils anderen Überladungsversuche schoben sich beide in engen Blöcken in die Halbräume, agierten im tiefen zweiten Drittel in intelligenten, leicht nach außen gekippten Stellungen. Situativ rückten sie auch gerne ins höhere Pressing auf, was gerade Juventus auch in anderen Begegnungen zeigt. Es sind also ebenso Ausnahmen von dieser tiefen, teils strafraumfixierten Gesamtausrichtung erkennbar.

Ist der italienische Fußball dadurch allgemein gesagt einfach zu passiv und reaktionär?

Als verhältnismäßig passiv kann man ihn einschätzen, wobei daraus schwer eine Wertung zu machen ist. Solange man nicht vernünftige Mechanismen zur Zugriffsherstellung vergisst, kann eine Defensivspielweise im normalen Kontext eigentlich nicht pauschal zu passiv sein.

Wie Kollege RM formulierte, locken viele Mannschaften aus ihrem defensiven Zentrumsfokus an die dortige Stabilität heran und versuchen dort dann Bälle zu erobern. Daher lässt sich „reaktionär“ wohl in keiner Hinsicht wirklich unterschreiben – die engen Defensivformationen mit ihren nach außen leitenden Elementen sind zumindest in leichter Form eine mannschaftstaktisch provokative Maßnahme.

Davon gibt es auf individueller Ebene aufgrund der gewissenhaften Ausbildung von Verteidigern auch immer mal wieder etwas zu sehen. Und in ihren besten Phasen hat die Roma unter Garcia mit dem Öffnen bestimmter Räume und dem Erzwingen frühzeitiger, qualitätsarmer gegnerischer Abschlüsse auch eine sehr moderne Form der Provokation gezeigt. Kürzlich beim Römer Derby zeigten beide Kontrahenten jeweils angepasst und aufmerksam zurückarbeitende Flügelstürmer – Lazio eher in tiefen Bereichen, die Roma in höherer Ausrichtung.

Diese Akteure spulten nicht einfach eine abwartende Standard-Rolle ab, sondern sorgten für Balance, Umformungen und dadurch verbesserte Kompaktheit. Insgesamt schwingt im Rhythmus der Serie A in allen Spielphasen zwar manchmal ein „reaktionäres“ Gefühl mit, aber dagegen stehen solche Beispiele, das strategische Kalkül einiger Teams oder auch die im Aufbau bei einigen Mannschaften – wenngleich manchmal etwas lasch – vorhandenen dominanten Ansätze und konstruktiven Versuche.

Welche taktischen Merkmale kennzeichnen die Serie A am meisten?

Einige Elemente sind mittlerweile schon angeklungen. Dazu gehören Stabilität in verschiedenen Spielphasen, ein besonderer, von eher geringer Intensität geprägter Rhythmus oder der etwas tiefer angelegte Zentrumsfokus. Viele Mannschaften sind sauber organisiert und verfügen über zahlreiche individualtaktisch gut geschulte Spieler – was sowohl Kennzeichen als auch Stärken darstellen.

Das Aufbauspiel ist tendenziell zwar kontrolliert, präsent und dominant, teilweise auch bewusst, was sich an vielen interessanten Spielertypen für die Sechser- und Achterpositionen zeigt, allerdings durch den Rhythmus etwas lasch, unstringent und nicht immer ganz so systematisch aufgezogen.  Wenn die Raumaufteilung in diesen Zonen eben nicht alles ausreizt, sind es oft auch tiefe Spielmacher, die gerne mit längeren Zuspielen die Bälle aus dem gemächlichen Aufbau nach vorne tragen und damit der fast beliebig oder divenhaft wirkenden Charakteristik des Rhythmus entsprechen – ein bisschen der „Pirlo way of life“, wie Kollege MR mal formuliert hat.

Neben diesen Figuren kommen im Mittelfeld sehr viele vielseitige Allround-Achter, die sich in den verschiedenen Formationen auch gut anpassen können und mit ihrem – besser als bisweilen in den Aufbaustaffelungen – guten Bewegungsspiel überzeugen. In den Offensivbereichen gibt es eher weniger spielerisch kombinative Aktionen, mit denen Durchschlagskraft taktisch sauber in gruppentaktischen Abläufen erzeugt werden, sondern es sind eher einzelne Faktoren dafür verantwortlich – ob durch einzelne geniale Pässe, die Auswirkungen der Präsenz und des Bewegungsspiel einzelner Mannschaftsteile oder beispielsweise kleinere, vorstrukturierte Mechanismen wie die Nutzung von Ablagen zwischen Stürmern und Achtern.

An dieser Stelle wird dann die italienische „Vorliebe“ für solche Typen noch einmal unterstrichen. Sie zeigt sich zudem auch in einigen guten Abläufen in den Übergangsbereichen. Allerdings ist häufig für die vorderen Zonen auch eine gewisse Inkonstanz auszumachen, die die Gemengelage dann noch beeinflussen und verändern kann.

Innerhalb der Liga, aber auch schon bei den Mannschaften selbst gibt es eine teilweise extreme Spanne – von ganz schwachen offensivzentralen Aktionsmustern und Staffelungen bis zu hochinteressanten Synergien durch gewisse Asymmetrien. Generell sind eine Reihe von Serie-A-Teams in gewisser Weise wechselhaft.

Dadurch bricht der ruhige Grundrhythmus immer mal wieder auch auf und wird ungeordneter, chaotischer, was durch etwaige Mannorientierungen oder Asymmetrien noch verstärkt werden kann. Ein solches, leicht unstrukturiertes Hin und Her löst sich aber nie ganz aus dem grundlegenden Trott, sondern bleibt auch in offeneren Phasen durch die etwas lasche, unhektische Stimmung unterlegt. Damit kommt man wieder zum eigenen Rhythmus, der bei vielen Kernpunkten also dabei ist und neben Dingen wie der Stabilität zu den charakteristischsten Aspekten gehört.

Hat die Serie A einfach ihre eigene Spielweise, relativ unbekümmert von internationalen Trends?

Zusammengefasst kann man einen insgesamt doch auffälligen und charakteristischen Stil der Liga finden, wie bereits ausgeführt. Die Verhältnisse zwischen verschiedenen Aspekten gestalten sich dabei recht besonders. Natürlich fließen aber gewisse allgemeine Trends in den italienischen Fußball ein.

Nur sieht man das manchmal vielleicht nicht so deutlich auf den ersten Blick – wenn die Ausgangsstruktur besonders kernscharf ist, dauert es etwas länger, bis Veränderungen ganz konkret augenscheinlich werden. Einige kleine Allgemein-Trends wie beispielsweise die Rückkehr der Dreier- und Fünferketten waren für Italien zudem keine neuen Entwicklungen und konnten somit auch nicht den Eindruck auslösen, dass sich „da gerade etwas verändert“.

Tun sich die Italiener dadurch schwerer in der Champions League? Mit Juventus hat es heuer ja lediglich ein Verein ins Achtelfinale geschafft.

Insgesamt würde ich eine eigentümliche Spielweise nicht als Problempunkt auf internationalem Parkett ansehen. So gravierend sind die Probleme der Serie A wohl nicht. Bei einigen Beispielen – und da ist natürlich insbesondere an die Mailänder Klubs zu denken – dürfte es sich auch um Einzelphänomene handeln, die eben als Verein für sich Fehler gemacht haben und daher nun eine schwächere Phase durchleben.

In diesen Fällen spielt dann das schwächere Spielermaterial auch wirklich mal entscheidend mit, wieso es nicht mehr so gut läuft wie noch in den 2000ern. Ansonsten muss man sagen, dass beispielsweise die Roma auch nur knapp gegenüber Manchester City scheiterte und fast neben Juventus durchgekommen wäre. Napoli unter Benítez zeigt dieses Jahr nicht die Stärke der Vorsaison und wurde dafür von Athletic bestraft, hätte also eigentlich auch besser abschneiden können.

Oft hört man von Fans, dass Juventus oder Napoli aufgrund ihrer 3-5-2 bzw. 3-4-2-1 Grundformation Probleme hatten…

Normalerweise ist die Formationswahl nur in seltenen Fällen als ein derartiger Faktor zu sehen, wenn sie wirklich unpassend eingesetzt ist. Das lässt sich über Contes Juve oder Mazzaris Napoli aber eigentlich nicht sagen. Es kommt dabei immer auf die Ausführung des 3-5-2 – keinesfalls altmodisch oder veraltet – oder einer anderen Anordnung an und beide Teams verfügten durchaus über sinnvolle Elemente. Durch die verschiedenen aufrückenden Bewegungen einzelner Verteidiger entstanden beispielsweise Umformungen oder formative Anpassungsfähigkeit.

Wie sehen denn die Trends in der Serie A aus? Derzeit ist ja ein wenig eine Abkehr vom 3-5-2 als Grundformation erkennbar…

Ein wenig ist das vorhanden, wenngleich immer noch eine ganze Reihe von Teams mit einer derartigen Ausrichtung agiert und bei den beiden prominentesten Beispielen der Wechsel vom 3-5-2 auf eine Viererketten-Formation auch erst durch Trainerwechsel motiviert war. Man muss mal schauen, wie sich das in dieser Hinsicht entwickelt, zumal auch beispielsweise das schon angesprochene 4-3-2-1 sehr „italienisch“ ist. Ansonsten gibt es wie im gesamten Weltfußball eher verschiedene kleinere Trends. Einige Teams wagen Teil-Experimente und versuchen sich schärfere Profile zu geben. Im Pressing scheint es ein langsames Aufholen zu geben, was vielleicht einer der deutlichsten Punkte ist. Was die Entwicklung des Aufbauspiels angeht, sieht es noch ein wenig undeutlich aus.

In welchen Bereichen gibt es in Italien besonderen Aufholbedarf?

Einige Dinge wurden davon bereits thematisiert. Um noch einmal zu rekapitulieren: Im Pressing gibt es nicht die Kohärenz, Systematik und Intensität wie beispielsweise in Deutschland, wobei das auch stilistisch bedingt ist und von Italien – im Gegensatz zu vielen unkompakten, schlecht verschiebenden Teams aus England – durch andere Defensivstärken durchaus aufgefangen werden kann. Auch den etwas laschen, intensitätsarmen Rhythmus könnte man dazu rechnen, wenngleich so ein Element schwierig zu beeinflussen und zu verändern ist.

Wo das aber möglich wäre, ist wohl in Sachen mannschaftlicher Konsequenz in  den Aufbaupositionierungen. Juventus hat das in den letzten Jahren schon sehr gut gemacht, aber manch anderes Team „gammelte“ in den hinteren Linien doch bisweilen etwas und besetzte die Räume mit den eigenen mannschaftlichen Stellungen nicht konstant genug.

Zum zweiten trifft das auf das noch nicht aggressiv genug ausgeführte Gegenpressing zu, das in der Leistungsdichte verbessert werden müsste. Schließlich könnte auch das feinfühlige, gruppentaktische Zusammenspiel um die Halb- und Zehnerräume herum noch eine Steigerung vertragen.

Wie groß ist denn mittlerweile der Rückstand gegenüber Deutschland und den anderen Topligen?

Das ist sehr schwer zu beziffern, da man bei solchen Vergleichen die verschiedenen taktischen Teilbereiche – also Grundausrichtungen, Pressinganlagen, Ballbesitzspiel, Vielseitigkeit, Gegenpressing, Stand der Offensivabläufe, usw. – einzeln betrachten und dann anschließend in Verbindung sortieren muss.

Alles in allem dürfte es aber nicht so dramatisch sein, dass man allein die Deutlichkeit des Rückstandes bewerten müsste. Italien ist etwas anders, aber doch nicht so schlecht, sondern in manchen Punkten schwächer, in anderen wiederum sehr stark. Auch die anderen Topligen haben entsprechend mal dort ihre Stärken und Schwächen und mal dort.

Wie sehr behindern die häufigen Trainerwechsel die Weiterentwicklung des italienischen Fußballs?

Das ist ein wichtiger Punkt, den ich zu den größeren Schwächen und Problemen des italienischen Fußballs zählen würde und der seine Teil-Rückständigkeit mitbedingt. Durch diesen Mechanismus ist es für die Trainer schwieriger, die Dinge etwas längerfristiger zu entwickeln. Junge Übungsleiter wie beispielsweise Seedorf oder Stramacioni haben sicherlich ihre Fehler gemacht, aber auch wirklich nur wenig Zeit erhalten. So kann eben nicht immer die nötige Kontinuität entstehen.

Problematisch ist bei der ganzen Sache, so scheint mir, wohl auch, dass häufigere Trainerwechsel die Bewertung von Coaches noch mehr verzerren als ohnehin schon, weshalb „schwächere“ Trainer dadurch – und hinzu kommt noch die quantitative Komponente der Wechsel – vielleicht tendenziell häufiger an Posten kommen können als sonst. Eventuell könnte man an dieser Stelle noch die teils überdimensionierten Kadergrößen vieler Teams und insbesondere die unwirklich anmutende Masse an Leih-Geschäften einberechnen, wobei das in der Auswirkung ein schwer zu greifender Punkt ist.

Zeman wurde bei Cagliari mittlerweile wieder entlassen. Ist sein Fußball einfach zum Scheitern verurteilt?

Er pflegt sicherlich einen speziellen und riskanten Stil, den ich ambivalent betrachten würde – alles jedoch unter der Maßgabe, dass ich sein Cagliari nicht beobachtet habe und mich eigentlich nur auf die eine oder andere vorige Station beziehen kann. Bei einer verrückten, wilden Spielweise mit vielen aufrückenden Offensivbewegungen aus dem Mittelfeld und weiträumigen Pressingmechanismen, wie er sie bei einigen kleineren Teams oder der Roma beispielsweise praktizieren ließ, sind Balance und Absicherung ein schmaler Grat.

Das hat bei ihm auch aufgrund der etwas simplen und unsauberen Anlage nicht immer funktioniert, war wechselhaft – in den schlechten Phasen mal mit Kontertoren bestraft und mal für suboptimale Versuche zu groß werdender Passivität – und zumindest für die Spitze wohl nicht gut genug.

Braucht es dennoch mehr Leute wie Zeman um den italienischen Fußball wieder nach vorne zu bringen?

In manchen Hinsichten bringt er zweifellos besondere Punkte ein. Prinzipiell können Verrücktheit, taktischer Mut und unorthodoxe Dinge sehr wichtig sein, doch das gilt nicht nur für Italien, sondern insgesamt für den Weltfußball, der davon etwas mehr vertragen könnte. Auch wenn dann eben noch – wie bei ihm mehrfach der Fall – die Balance fehlt, sind durch solche Persönlichkeiten gewisse Anstöße möglich.

Italien muss sich darauf konzentrieren, auf der Basis des eigenen Stils dessen Schwachpunkte zu beheben und sich in Aspekten wie beispielsweise der Aufbauanordnungs- und Aufbausynergiekonsequenz oder einigen Offensivelementen zu steigern, ohne dabei alles umzuschmeißen.

Das Nationalteam ist erneut in der Gruppenphase der Weltmeisterschaft ausgeschieden. Ist es derzeit ein Spiegelbild der Liga?

Das ist eine schwierige Frage. Einerseits waren von der Art her die Ähnlichkeiten zwischen Italiens systematischer Anlage bei der WM und der Spielweise, wie sie die Serie A prägt, unverkennbar. Dennoch gab es in der Qualität der Ausführung deutliche Unterschiede, denn beim Nationalteam waren die problematischen Aspekte im Sommer gewissermaßen potenziert.

Die genauen Rollenverteilungen der asymmetrisch angelegten Mittelfeld- und Offensivanordnungen war etwas unklar – gegen England hatten sie noch gute Ansätze – und vor allem scheiterten sie trotz aufrückender Halbverteidiger gegen Uruguay an der kaum ambitionierten, drucklosen und trägen Ballzirkulation im defensiven Mittelfeld, die eigentlich keine war – ein bisschen also wie „Italienisch in schlecht“. Gegen Costa Rica wurde ihr eigentlicher, gemächlicher Zentrumsfokus lahm gelegt.

Sie waren insgesamt zwar gut organisiert, aber das, was organisiert war, also die Aufteilung, überzeugte nicht und verfehlte die nötigen Synergieeffekte. Insgesamt half daher auch ihre meistens solide und stabile, aber wenig proaktive Defensive nicht.

Zu dieser schwierigen Bewertung im Zusammenhang von Liga und WM kommt dann noch die Person Prandelli hinzu, der bei der Fiorentina und der EM 2012 noch überzeugen konnte, wenngleich auch eher im defensiven und methodischen Bereich, danach aber durchaus abbaute, unbewusster wurde und zunehmend an Konsequenz verlor. Die schwache WM war dann so etwas wie die Spitze dieser doch etwas seltsamen gelagerten Entwicklung, die aufgrund dessen aber eben nur bedingt repräsentativ für den gesamten italienischen Fußball stehen kann.

Wie beurteilst du bisher die Entwicklung unter Antonio Conte?

Bisher habe ich noch nicht so viel gesehen von diesem Projekt, aber die kurzen Eindrücke waren doch zumindest nicht schlecht. Beim Testspiel gegen die Niederlande zum Beispiel hatten sie gute Ansätze beim Verschieben, in der Wirkung des vorderen Bewegungsspiel, der Ballsicherheit.

Das schnelle Durchspielen des Mittelfelds mit Ablagen wirkte bewusst und war ein sinnvoller Ansatz, aber noch ziemlich unabgestimmt. Defensiv schwankten die Kompaktheit und das Timing des Herausrückens noch stark, aber man konnte die eine oder andere interessante Umformung oder leichte Asymmetrie erahnen.

Die Personalwahl wirkt bisher etwas unscharf und wechselhaft, teils noch nicht so richtig strukturiert. Einige Entscheidungen waren begrüßenswert, andere etwas ungewohnt und eigen. Das kann gut sein, wenn der Plan dahinter sehr genau auf die Synergien des Endprodukts abgestimmt ist, aber eben dann gefährlich, wenn man bestimmte Möglichkeiten – ob bezüglich Einzelspieler oder Spielertypen oder auch Ausrichtungen – nicht berücksichtigt.

Würdest du Contes Fußball überhaupt als modern bezeichnen?

Wieso denn nicht? Ich habe zwar gehört, dass es trotz der drei Meisterschaften mit Juve einige kritische Stimmen zu seiner Person gab, aber dass derartige Fragen im Raum stünden… Insgesamt würde ich Conte natürlich keinesfalls als schlechten Trainer sehen, sondern habe ihn bisher weitgehend wohlwollend bewertet. Seine systematische Defensivarbeit mit der pendelnden Viererkette aus der Fünferkette, die verschiedenen aufrückenden Bewegungen, die teils sehr druckvolle und dominante Grundanlage oder der Versuch von Ablagen der Stürmer im Offensivspiel sind sicher moderne Punkte.

Welche Trainer in der Serie A begeistern dich derzeit am meisten?

Alles in allem sieht es diese Saison wieder ganz gut aus. Obwohl die Roma beispielsweise nicht mehr das Niveau des Vorjahres hat, muss man Rudi Garcia auch diesmal wieder dazurechnen, zumal sein Team meistens sehr erfolgsstabil und konstant punktet. Bei Juventus macht sich der zuvor bei Milan etwas schwankende Allegri alles in allem sehr gut und hat trotz kleinerer Balanceprobleme im Detail und gewisser Schwierigkeiten mit sauberer Durchschlagskraft schon diverse sehr interessante und lobenswerte Dinge gemacht.

Zum Beispiel die Rollenverteilung der Raute, die tiefen Torwartketten-Ansätze oder einige ingame-Umstellungen wären da zu nennen. Stefano Piolis Lazio ist zwar durch sehr simple Strukturen gekennzeichnet, aber führen sie dies doch auf eine saubere, anpassungsfähige, stabile und solide Art aus, die sie daher durchaus gut anzuschauen macht. Auch Montella sollte bei der Fiorentina solide Arbeit machen, aber leider habe ich von denen zuletzt viel zu wenig gesehen.

Auch wenn sie nicht wirklich begeistern, noch einige weitere nennenswerte Namen: Sinisa Mihajlovic und Gian Piero Gasperini bei den beiden Klubs aus Genoa leisten gute Arbeit, haben aber sehr seltsame Teams mit Ambivalenzen und teils chaotischen, ungewöhnlichen Elementen geformt.

Ähnliches gilt für Giampiero Ventura bei Torino, der ein defensivstabiles und in der Zirkulation wie generell etwas druckloses 5-3-1-1 spielen lässt, wenngleich das nach vorne eher individuell angelegt und rhythmisch etwas seltsam ist. Das zeigt allerdings die Vielseitigkeit, die diese Liga durchaus zu bieten hat.

Zum Abschluss noch zwei unbekanntere Beispiele: Zum einen Maurizio Sarri beim FC Empoli, der teilweise eine sehr bewusste, konsequente, ansehnliche und fluide, darin aber manchmal übertriebene, etwas ungerichtete und überambitioniert rochierende Zonenzirkulation an den Tag legt. Zum anderen Devis Mangia, auch wenn dessen guter Auftritt als Trainer der U21 bei deren Europameisterschaft 2013 schon einige Zeit her ist. Bei Spezia war er anschließend scheinbar sehr erfolgreich, bei Bari wohl weniger.

Trainer wie zum Beispiel Capello, Lippi oder Mancini waren in den letzten Jahren quasi ein Exportschlager. Wird sich daran auch in Zukunft nichts ändern oder könnte die Zahl der italienischen Trainer im Ausland in den nächsten Jahren stark zurückgehen?

Ich denke schon, dass man die Stabilität und Systematik, die viele italienische Trainer vermitteln können, international weiterhin schätzt. Bei den genannten Beispielen kann man einwenden, dass Capello und Mancini gewisse Defizite aufweisen und gar nicht so zu den absoluten Top-Coaches gehören.

Das ist jetzt die Frage, wie man das im Hinblick auf Italien versteht – tendenziell aber wohl eher positiv. Einige Leute aus den zuvor genannten Beispielen könnten es sogar besser machen. Von daher hat Italien auch in Zukunft Chancen auf hochrangige europäische Topcoaches, wobei die Tendenz bei einigen vielleicht eher in die Richtung geht, in der Heimat zu bleiben.

Zum Abschluss würde ich gerne noch einmal kurz zusammenfassen: Es gibt einige Kritikpunkte an der Serie A, die fraglos angebracht sind und hinsichtlich derer Verbesserung nötig ist. Trotz der zuletzt schwachen Bilanzen im internationalen Vergleich ist es Zeit für einen Abgesang jedoch nicht. Das Spitzenspiel zwischen Juventus und der Roma vom vergangenen Oktober oder das Römer Hauptstadtderby diesen Monat waren nur zwei Beispiele für taktisch starke, niveauvolle und ansehnliche Begegnungen, die Werbung für die Liga gemacht haben.

Vielen Dank für das Interview

(Titelbild via interleaning.tumblr.com)

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