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Thiago Silva: Der Umgang mit Druck im Profisport

Thiago Silva, 33 Jahre alter Innenverteidiger, Stammspieler bei Paris Saint-Germain und der brasilianischen Nationalmannschaft. Vor einiger Zeit galt er als einer der besten Innenverteidiger der Welt, doch inzwischen erfährt er kaum noch Wertschätzung. Wieso geht der Mann, der seit 2012 bei Paris spielt und fast genauso lang unter verschiedenen Trainer Mannschaftskapitän war, in der öffentlichen Wahrnehmung so unter?

Mit 24 Jahren wechselte der Brasilianer zum AC Mailand. Dort bildete er mit Legende Alessandro Nesta die Innenverteidigung und konnte 2011 die Meisterschaft gewinnen. In der Saison war er absoluter Leistungsträger und wurde als bester Innenverteidiger der Serie A ausgezeichnet.

Im Sommer 2012 wechselte er zusammen mit Zlatan Ibrahimovic zu Paris Saint-Germain. In inzwischen sechs Saisons gewann Paris fünfmal die Meisterschaft. Im Vordergrund jedoch stehen, wie es bei so dominanten Teams häufig der Fall ist, die Offensivspieler: Ob Ibrahimovic, Cavani, Neymar oder Mbappe, sie alle erhielten mehr Aufmerksamkeit als der Verteidiger. Doch weshalb sollte der 33-Jährige mehr gewürdigt werden?

Weil Thiago Silva nahezu fehlerfrei spielt. Er wurde 2016/2017 und 2017/2018 in der Liga kein einziges Mal “disposessed” (whoscored.com: “Player is dispossessed on the ball by an opponent – no dribble involved”). Seine durchschnittliche Passquote in der letzten Saison betrug 96,1%.

Im Spiel mit seiner schwächsten Passquote brachte er 49 seiner 53 Pässe an. Thiago Silva besitzt eine so stark ausgeprägte Sauberkeit und Präzision in seinen Aktionen, das einem angst und bange wird. Und übrigens: Die Dreistigkeit, in einem Spiel nur eine erfolgreiche Passquote von 92,5% zu besitzen, hat er mit zwei Spielen, in denen er keinen einzigen Fehlpass spielte, halbwegs wieder gut gemacht – wobei er dort jeweils auch nur eine Halbzeit spielte.

 

Die Perfektion in Person

Die oben dargelegte Sauberkeit im Passspiel bezieht sich gleichermaßen auf seine Zweikampfführung. Der PSG-Kapitän hat in der letzten Saison so viele gelbe Karten wie noch nie gesammelt: 5 in 25 Spielen. Zu der für ihn exorbitant hohen Anzahl an Verwarnungen kommt noch verhältnismäßig unterdurchschnittlicher Wert bei Fouls: Insgesamt beging er nur 24 Fouls in 25 Spielen. 2016/2017 war es noch eine gelbe Karte bei 14 Fouls in 27 Spielen. In insgesamt 334 Spielen hat er 28 gelbe Karten und eine rote Karte bekommen. Und zwar so:

Zu all dieser statistisch belegbaren Sauberkeit im Passspiel und in der Zweikampführung kommt hinzu, dass sein Passspiel nicht nur nahezu immer den Mitspieler findet, sondern er auch konstant den richtigen Mitspieler in der richtigen Situation mit richtiger Gewichtung in den richtigen Fuß findet. Hierbei scheut der PSG-Kapitän nicht das Risiko, sondern bringt seine Pässe immer wieder zwischen den Linien an. Im Aufbauspiel nutzt er häufig Passfinten, Richtungsänderungen und auch Verzögerungen, um die optimale Situation für den Pass zu abzuwarten bzw. zu kreieren.

https://www.youtube.com/watch?v=Cb33o_er2T4

 

Der Saubermann

Diese Präzision zeigt sich ebenso in seinem Stellungsspiel: Der brasilianische Innenverteidiger positioniert sich stets richtig, um das Herausrücken seiner Mitspieler abzusichern – am besten ist dies im Zusammenspiel mit dem taktisch undisziplinierten David Luiz zu sehen gewesen – besitzt aber auch selbst ein überragendes Timing im Herausrücken.

Überdies ist der Einsatz seiner Tacklings gut dosiert: Der Gegenspieler wird aus gefährlichen Situationen weggeleitet, und wenn die Chance höher ist, den Ball zu gewinnen als ihn nicht zu gewinnen, wird er ins Tackling übergehen (und den Ball dann auch recht häufig gewinnen).

Das klingt erstmal unspektakulär, doch ist die Konstanz hierbei das Beeindruckende: Jeder Innenverteidiger wird mal ausgespielt, kommt zu spät oder geht überengagiert in ein Tackling, wo ein Ballgewinn noch gar nicht realistisch erscheint und die Situation erst dadurch gefährlich wird, dass das Tackling nicht funktioniert hat. Thiago Silva passiert dies nicht.

Über seine gesamte Karriere hat der Brasilianer zusätzlich eine herausragende Strafraumverteidigung entwickelt. Mit 1,83m ist er für einen Innenverteidiger zwar gar nicht so groß, doch macht dies mit Timing, Sprungkraft und Positionierung nicht nur wett, sondern ist zudem extrem kopfballstark.

Besonders auffällig ist, dass er jeden Ball sauber aus dem Strafraum befördern kann. So sind gefährliche Situationen nicht nur vorerst vorüber, sondern es entstehen gänzlich neue Spielsituationen.

https://www.youtube.com/watch?v=0G9aAMQpnIQ

Football Arguments hat diese Sauberkeit in seinem Blog nochmal wunderbar zusammengefasst: “What really catches the eye about Silva’s game is the utter cleanliness apparant in almost everything he does. When he lunges to intercept a cross: expect him to make clean contact with the ball, sending it out of the danger zone. When he makes a tackle: expect it to be all ball and no man. When he passes: expect it to be well-weighted and reach its destination. When he positions himself: expect him to stand just where he is supposed to be. Thiago Silva basically is a textbook on defending that came alive.”

 

Der perfekte Innenverteidiger?

Es scheint sich also um einen Innenverteidiger zu handeln, der schlichtweg perfekt ist: Keine technischen Fehler, keine Stellungsfehler, dazu dynamisch, sprunggewaltig, durchaus torgefährlich und kreativ im Aufbauspiel. Und was unzweifelhaft nach dem besten Innenverteidiger aller Zeiten klingt, wird aber öffentlich nicht so wahrgenommen. Natürlich ist zu nennen, dass er seit einigen Jahren “nur” in der französischen Liga spielt und er noch keinen großen Titel gewonnen hat.

Der Brasilianer war außerdem jeweils dreimal im UEFA Team of the Year und im FIFA World XI, doch wurde er öffentlich nie so gehypet, wie es bei einem Sergio Ramos oder auch Jerome Boateng der Fall war. Ein Grund hierfür mag sein Spielstil sein, der bisweilen unspektakulär ist.

Wo andere Spieler grätschen müssen und sich somit ihren Applaus einheimsen, lässt Thiago Silva es gar nicht erst zu, grätschen zu müssen. Durch diese Sauberkeit in all seinen Situationen kommt es eben selten dazu, dass er in einzelnen Szenen individualtaktisch glänzt – obwohl er das könnte.

 

Die Schattenseiten des Thiago Silva

Doch ist das alles wohl nicht der Hauptgrund dafür, dass sein Standing bei PSG und der Nationalmannschaft nicht immer das beste war und ist: In Brasilien hatte er nach der WM 2014 seinen Stammplatz verloren. In Paris gab es vor der Saison 17/18 Gerüchte, dass er ersetzt werden soll, obwohl sein Vertrag Ende 2016 noch bis 2020 verlängert wurde.
Der Vorwurf: Thiago Silva ist kein Führungsspieler, weil er dem großen Druck nicht standhalten kann.

Wie kommt es zu dieser Kritik?

Der Mann, der in all seinen Aktionen eine beinah absurde Perfektion besitzt, kann ebenso absurde Fehler machen. Es sind selten „typische“ Fußballerfehler wie ein Ballverlust, Fehlpass, hartes Foul oder schlechtes Stellungsspiel, die durch Konzentrationsschwächen oder falsches Einschätzen der Situation entstehen. Stattdessen sind die Fehler nur aus einer Art Hilflosigkeit bzw. Angst zu erklären. So beispielsweise zwei absurde Handspiele in K.o.-Spielen, bei denen er mit der Hand zum Ball springt, obwohl die Situation ungefährlich war.

Und was häufig vergessen wird: Nicht nur Neymar hat das 7:1 gegen Deutschland verpasst, sondern auch Thiago Silva, und zwar gelbgesperrt. Musste er sich also doch mal mit einem Foul helfen? Nein, er ist in den kolumbianischen Torwart gerannt, als dieser einen Abstoß ausführte.

Das Elfmeterschießen gegen Chile bei der WM 2014, vor dem er geweint und den Trainer gebeten hatte, ihn als allerletzten Schützen aufzustellen.

Und als er für das Hinspiel gegen Barcelona 2016 ausfiel, hörte man aus einigen Kreisen, dass er aus Angst vor Messi und Barcelona nicht spielen würde. Nachdem dieses Spiel 4:0 gewonnen wurde, bestritt er das Rückspiel, welches dann tragischerweise 6:1 verloren wurde.

 

Der Widerspruch in sich

All diese Szenen und Geschichten zeigen die Widersprüche des Thiago Silva: Die Sauberkeit, Perfektion und Rationaliät in allem, was er auf dem Fußballplatz tut. Und konträr zu seinem Spielstil diese Irrationalität bzw. Angst in den obigen Szenen, die einen Fußballer zeigen, der komplett verunsichert zu sein scheint.

Es ist wohl kein Zufall, dass alle Situationen in K.o.-Spielen stattgefunden haben, in denen der Druck besonders hoch ist. Doch sollten diese Fehler seine Reputation derart beschädigen, dass er in Brasilien zeitweise „Chorao“ (“Heulsuse”) genannt wurde?

Erstmal sollte man festhalten, dass die Anzahl der Fehler, insbesondere in Relation zu anderen Top-Innenverteidigern, immer noch sehr gering ist. Auch in den meisten K.o.-Spielen liefert Thiago Silva überragende Leistungen ab. Die Problematik besteht darin, dass die Fehler etwas widerspiegeln, was kaum ein anderer Profi so offen und so ausgeprägt zeigt: Angst und Überforderung mit dem Druck in großen Spielen.

Das Foul am kolumbianischen Torwart war ein Totalaussetzer, für den die Teamkollegen wohl auch nicht das größte Verständnis hatten: Jeder der brasilianischen Spieler hatte den Druck im eigenen Land zu spielen, jeder hatte Angst vor dem Ausscheiden und die Reaktionen darauf; doch hat keiner solch ein dummes Foul begangen und deswegen das Halbfinale verpasst.

 

(Leistungs-)Druck im Profisport

Die Thematik zeigt jedoch auch ein weiteres Problem im Profifußball (und generell im Leistungssport): Die Profis müssen Maschinen sein, die möglichst jedes Spiel bestreiten und immer Leistung abrufen müssen. Für viele scheint unvorstellbar zu sein, dass diese Sportler ebenfalls Menschen mit Konzentrationsschwächen, Ermüdungserscheinungen und Versagensängsten sind, aus denen Leistungsschwankungen resultieren.

Der ehemalige deutsche Nationalspieler Per Mertesacker wurde in der deutschen Medienlandschaft für seine ehrlichen Aussagen am Ende seiner Profikarriere gelobt, aber ebenso kritisiert. Mertesacker sprach von diesem „ständigen Horrorszenario, einen Fehler zu machen, aus dem dann ein Tor entsteht“. Sein Körper habe auf den hohen Druck vor jedem Spiel mit Brechreiz und Durchfall reagiert.

Außerdem sei er über das Ausscheiden gegen Italien bei der WM 2006 „enttäuscht, aber vor allem erleichtert“ gewesen. Kritiker (hier: Lothar Matthäus) meinten, dass er mit dem Fußballspielen hätte aufhören sollen, wenn er mit dem Leistungsdruck nicht umgehen konnte. Über dies dürfe ein Turnier im eigenen Land aufgrund der herrschenden Euphorie keine Belastung sein.

Dies veranschaulicht den verständnislosen Umgang mit Ängsten: Spieler werden von den Fans und in den Medien für Fehler gescholten. Dadurch werden die Versagensängste weiter verstärkt. Im Bezug auf den Profisport (und auch auf viele andere Bereiche) werden Fehler weiterhin als unentschuldbare Schwäche gesehen. Dabei wäre ein offener Umgang mit den Fehlern und den eigenen Ängsten die beste Lösung: Die Fans würden sehen, dass auch die „Multimillionäre“ ähnliche Probleme und Ängste wie sie haben.

Die Identifikation mit den Spielern könnte wieder steigen, da die so häufig beklagte „Unnahbarkeit“ und „Distanz“ etwas aufgehoben werden würde. Ebenso würden die Spieler profitieren, da ein offener Umgang mit ihren eigenen Fehlern und Ängsten einen Lerneffekt bewirken könnte. Wenn die eigenen Fans dies auch akzeptieren können, würde das erheblichen Druck von den Spielern nehmen.

 

Erste positive Entwicklungen

Doch gibt es bereits positive Entwicklungen in dieser Thematik: Das Interview von Mertesacker wurde nämlich von vielen Seiten auch positiv aufgenommen. Auf der Seite The Player’s Tribune können Profisportler über ihre Profikarriere und ihren Weg dorthin schreiben.

NBA-Star Kevin Love schrieb beispielsweise kurz vor dem Mertesacker-Interview über eine Panik-Attacke während eines Spiels und wie er im Anschluss damit umging.

Seitdem haben sich viele Profis über ihre Ängste geäußert. Die Reaktionen, auch der eigenen Fans, waren weitestgehend positiv (z.B. Andre Gomes beim FC Barcelona). Eine Fortführung dieser positiven Entwicklung wäre wünschenswert. Wobei: Vielleicht würde Thiago Silva dann gar keine Fehler mehr machen.

Henri Hyna
Liebt guten Fußball und hasst jeden nicht guten Fußball. Versteht aber auch nicht genau, wie guter Fußball funktioniert

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