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Wie gut war eigentlich… Gennaro Gattuso?

Es gibt Spieler, bei denen der Fußball-Fan denkt, viel über sie zu wissen, obwohl er kaum Spiele vom betreffenden Spieler gesehen hat. Der Stereotyp dieses Spielers ist für mich Gennaro Gattuso: In meinem Kopf hatte sich das Bild des aggressiven Abräumers im Mittelfeld bereits gefestigt. Doch als ich genauer darüber nachdachte, fiel mir auf:

Ich habe bei der WM 2006 das Halbfinale gegen Deutschland und das Finale von Italien gesehen. Die beiden Spiele und selbstverständlich das Champions League Finale gegen Liverpool 2007 sind die letzten beiden Auftritte von Gattuso, bei denen ich sicher weiß, dass er damals gespielt hat.

Beim Champions League Finale 2007 war ich allerdings erst 8 Jahre alt – kein Alter, indem ich mir anhand sehr weniger Spiele ein umfassendes und fundiertes Urteil über die Fähigkeiten eines Spielers bilden kann.

Umso mehr ich darüber nachdachte, umso mehr wurde mir bewusst, wie wenig ich über den Spieler Gennaro Gattuso weiß. Dieses Unwissen plagte mich und in einer weiteren schlaflosen Nacht (es ist mittags und ich sollte an meiner Hausarbeit schreiben) rang ich mich dazu durch, mir auf footballia.net einige Spiele des 1,77m großen Italieners anzuschauen.

Und: Ich wurde überrascht, positiv sowie negativ. Interessanterweise war ich positiv überrascht von seinen vermeintlichen Schwächen (alles mit Ball), während seine mutmaßlichen Stärken (alles ohne Ball) mich leicht enttäuschten.

Wichtig zu erwähnen ist, dass ich mir insgesamt sieben Spiele angesehen habe. In diesen Spielen lief er zum Großteil als rechter Achter auf, abgesichert von Andrea Pirlo. Zwei Spiele, die er zum Ende seiner Karriere absolvierte, bestritt er als rechter Sechser. Dort agierte er ebenfalls deutlich weiträumiger und aggressiver herausrückend als Pirlo.

 

Was er gut konnte

Beginnen wir mit dem Positiven: Gattuso brachte eine starke Dynamik mit und nutzte diese mit Ball clever, um anzudribbeln. Die Momente, um mit Ball aufzurücken und den Gegner zu überraschen, wählte er intelligent. Das Andribbeln beschränkt sich nicht auf Situationen, in denen Gattuso im Mittelfeld frei aufdrehen konnte, sondern kam ebenfalls in Szenen unmittelbar nach dem Ballgewinn zum Einsatz.

Wenn der Gegner zum Gegenpressing ansetzte, wusste Gattuso sich erstaunlich gut mit Dribblings daraus zu lösen: In den meisten Fällen nutzte er schlichtweg sein Tempo, um das Gegenpressing des Gegners zu durchbrechen. Falls der Raum zu eng war, um einfach durch ihn hindurchzustoßen, befreite sich der Italiener manchmal mit technisch ansprechenden Aktionen.

Darüber hinaus brachte der inzwischen 41-jährige seinen Körper stark zwischen Gegenspieler und Ball. So war es für den Gegner kein einfaches Unterfangen, ihm im Dribbling den Ball abzunehmen: Entweder er hatte den Körper dazwischen und zog das Foul; oder Gattuso war derart schnell, dass er nicht einzuholen war.

Als Passspieler war der Italiener ebenso nicht ganz unfähig: Wenn die Möglichkeit zum linienbrechenden Anspiel da war, erkannte er die Möglichkeit dazu mit ordentlicher Beständigkeit.

Technisch zeigte er sich bei Vertikalpässen und insbesondere bei Flugbällen außerordentlich sauber. Zusätzlich besaßen seine Flugbälle eine für den ballempfangenden Spieler angenehme Flugkurve. So kamen seine Flugbälle nicht nur beim Mitspieler an, sondern dieser konnte die Bälle auch sauber verarbeiten.

Absolut überragend – und für mich absolut überraschend – war sein Passspiel mit einem Kontakt. Absurd war besonders seine Reichweite: Seine Ablagen im Mittelfeld auf nachrückende Mitspieler waren technisch bereits beeindruckend, doch darauf beschränkte sich Gattuso nicht. Anspiele über 10 Meter (und manchmal deutlich mehr) gelangen ihm mit angsteinflößender Konstanz.

Zu meiner Enttäuschung wählte er seine One-Touch-Aktionen über 20 oder mehr Meter fast ausschließlich, wenn ihm keine andere Option übrig geblieben war. Die technische Qualität seiner One-Touch-Pässe war derart hoch, dass es von seinem Team fokussiert(-er) hätte genutzt werden können, um das gegnerische Pressing zu überspielen.

Der Italiener deutete sein spielerisches Potenzial nicht nur in Gegenpressingsituationen und bei seinen One-Touch-Pässen an. Vereinzelt drehte er sich im Spielaufbau bei der Ballan- und mitnahme sauber auf und konnte mit wenigen Kontakten das Spiel verlagern. Gattuso unterstützte seinen Außenverteidiger und half ihm mit seinen Positionierungen in Drucksituationen.

 

Was er überragend konnte

Und wie verhält es sich mit seinem Steckenpferd, der Lauf- und Defensivarbeit? Das Positive wieder zuerst: Der zentrale Mittelfeldspieler gewann pro Spiel eine absurd hohe Zahl an Bällen. Leider reichen die Daten auf whoscored.com nicht über die Saison 2009/2010 hinaus, aber die Zahlen in den Jahren danach sind trotzdem beeindruckend.

2010/2011 erreichte er in der Champions League 5,6(!) erfolgreiche Tacklings und 2,6 abgefangene Bälle pro Spiel. Im selben Jahr gelangen ihm in der Liga 3,8 Tacklings und 1,9 abgefangene Bälle pro Spiel. Gattuso war zu dieser Zeit bereits 33 Jahre alt und wurde oft vor Spielende ausgewechselt, was diese Zahlen noch beeindruckender macht.

Doch wie kann ein Spieler soviele Bälle erobern? Der Italiener nutzte seine Dynamik und Ausdauer, um immer wieder aus seiner Position herauszupreschen und Druck auf den Gegner zu auszuüben. Dabei versuchte er nicht, den Gegner aus gefährlichen Räumen fernzuhalten, sondern ging direkt auf den Ballgewinn.

Und jeder, der jetzt ein Bild vom immer grätschenden Gattuso im Kopf hat, darf sich bestätigt fühlen. Der zentrale Mittelfeldspieler bediente sich der Grätsche in einer für mich unvorstellbaren Frequenz.

Gattuso zeigte sich bei diesem inzwischen als durchaus ineffektiv geltenden Mittel sehr stark; besonders von der Seite hereinfliegend ist seine Erfolgsquote bemerkenswert.

Außerdem nutzte der Italiener kleine Fehler des Gegners intelligent. Falls der Ballführende ein schlechtes Sichtfeld hatte oder einen technischen Fehler beging, hing Gattuso ihm direkt an den Fersen und gewann oft den Ball.

 

Die Schattenseiten

Gewissermaßen wird im letzten Absatz auch die Kehrseite der Medaille des defensiven Spiels von Gattuso angeschnitten: Ich bin mir gar nicht so sicher, ob der 1,77m große Italiener diese Trigger wirklich so intelligent nutzte; oder ob er einfach immer aus seiner Position herausschoss und manchmal Glück hatte, dass der Gegner sich vorher Schnitzer leistete.

„Ballgewinn oder nix“ – Gennaro Gattuso

Oft genug stieß Gattuso weit aus seiner Position hervor, ohne abzuschätzen, inwieweit das jetzt eigentlich sinnvoll ist. So öffnete er (sehr) viel Raum, den der Gegner dann bespielen konnte. Seine defensiven Aktionen waren gewissermaßen so wichtig für sein Team, weil die defensive Stabilität bei unerfolgreicher Aktion Gattusos verloren ging.

Sein Hang zur Grätsche wurde ihm ebenfalls einige Male zum Verhängnis: Der Italiener hatte selbstverständlich keine 100% Quote beim Grätschen. So handelte er sich einige vermeidbare gelbe Karten ein. Teilweise rutschte Gattuso auch ganz ins Leere und benötigte etwas Zeit, um wieder in seine Position zu kommen.


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Desweiteren war ein großes Defizit des Italieners, dass er sowohl mit als auch ohne Ball oft die Orientierung verlor. Gattuso nutzte den Schulterblick – in Relation zu anderen Mittelfeldspielern – selten. Daher konnte er die Dynamik einiger Situationen nicht einschätzen.

Ohne Ball bedeutete dies, dass er sich kaum bewusst war, wieviel Raum er eigentlich öffnet; und wer sich in dem von ihm verlassenen Raum befindet. Daher kam es zu einigen vollkommen verrückten Szenen, in denen Gattuso bei Ballbesitz des Gegners 30 Meter aus seiner angestammten Position nach vorne sprintete, um dann voll am Ballführenden vorbeizuholzen.

So entstanden aus ungefährlichen Situationen Chancen für die Gegner, weil Gattuso seine Position vollkommen aufgelöst hatte.

 

Gattuso im Spielaufbau

Mit Ball war seine mangelnde Orientierung ebenso problematisch: Im ruhigen Spielaufbau konnte er von Gegnern aus dem Rücken überrascht werden und zeigte sich anfällig für Ballverluste. Mögliche und simple Anspieloptionen sah Gattuso nicht und war daher gezwungen, schwierige Drucksituationen aufzulösen (was ihm nicht immer gelang).

Seine Anfälligkeit für Ballverluste im Spielaufbau hatte jedoch mehrere Gründe, die sich gegenseitig bedingen. Der Italiener stand im Spielaufbau oft mit geschlossener Körper- und Spielstellung zum Ball. Einerseits suggeriert er seinen Innenverteidigern so keine Anspielbarkeit; andererseits braucht er selbst bei erfolgtem Zuspiel zu lange, um Richtung gegnerisches Tor aufzudrehen.

Dementsprechend war der Italiener besonders bei Attacken über seine (äußerst blinde) „blind side“ ein leichtes Pressingopfer für den Gegner.

Zusätzlich agierte Gattuso im Passspiel hektisch. Desöfteren wählte er die erste für ihn sichtbare Anspieloption, ohne abzuschätzen, inwieweit der ballempfangende Spieler etwas mit dem Ball anfangen kann. So spielte der Italiener Teammitglieder an, obwohl diese keine weiteren Anspielmöglichkeiten hatten und auch nicht aufdrehen konnten.

All das hatte zur Folge, dass seine Teams – besonders am Anfang seiner Karriere – versuchten, Gattuso so gut wie es geht aus dem Spielaufbau fernzuhalten. Im zweiten und letzten Drittel konnte er hingegen mit seinem starken Tempo und guten Dribbelfähigkeiten durchaus Gefahr entfachen.

 

Fazit

Wie lässt sich der Spieler Gattuso nun bewerten? Der inzwischen 41-jährige Italiener konnte mit seiner Spielweise ein Team mitreißen und seine Gegner frustrieren. Ein Spieler, der das Spiel des Gegners im Alleingang zerstören kann. Doch ebenso ein Spieler, der das eigene Spiel destabilisieren kann.

Ja, er gewann eine unheimliche Zahl von Bällen zurück. In einigen Kombinationen und weiträumigen Durchbrüchen bewies er ebenfalls, dass er technisch mehr als ordentlich ausgebildet ist. Jedoch wechselten sich Licht und Schatten in jedem Spiel regelmäßig ab.

In statischen Szenen besaß er große Probleme, die eigenen und gegnerischen Staffelungen einzuschätzen und adäquat darauf zu reagieren.

Gattuso war ein Spieler, dessen Aktionen stark auf ihn selbst zentriert waren. Bedeutet: Sein Spiel funktionierte nur, wenn er den Ball gewann oder das Dribbling erfolgreich bestritt. Das gelang ihm dermaßen oft, dass ihm eine positive Wirkung auf das Team in diesen Aspekten nicht abzuschreiben ist. Doch schadete er seiner Mannschaft manchmal mit seinem Übereifer.

Für das Team war es katastrophal, wenn die Aktionen des Italieners nicht von Erfolg gekrönt waren. Ohne Not entblößte er den Raum vor der Abwehr oder grätschte Gegner an der Seitenlinie um. Viele mögen argumentieren, dass dieses weiträumige Herauspreschen und die harten Tacklings von Gattuso sein Team „mitgerissen“ und „heiß gemacht“ haben.

Das bleibt Interpretationssache und ist durch Schauen der Spiele kaum zu überprüfen. Für mich ist ein unüberlegtes Herausrücken in Kombination mit einer fehlgeschlagenen Grätsche, bei der nur der Gegner erwischt wird, jedoch nichts anderes als genau das: Ein unüberlegtes Herausrücken und eine fehlgeschlagene Grätsche.

Ein abschließendes Urteil fällt mir somit schwer und möchte ich mir nicht erlauben, weil ich schließlich nur 7 Spiele, die über seine gesamte Karriere verteilt waren, gesehen habe. Daher möchte ich den Italiener nur mit einem Satz zusammenfassen:

Umso dynamischer die Situation, umso mehr Effekt entfaltet Gennaro Gattuso.

Henri Hyna
Liebt guten Fußball und hasst jeden nicht guten Fußball. Versteht aber auch nicht genau, wie guter Fußball funktioniert

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