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WM 2018: Marouane Fellaini und England, Standardkönige

„Lass mal den Fellaini einwechseln, wir müssen das Mittelfeld stärken.“ So eine ähnliche Aussage wird wohl vermutlich noch nie gefallen sein, in keinem Trainerteam.

Und dabei ist Marouane Fellaini doch eindeutig ein Mittelfeldspieler. Ein Mittelfeldspieler, der nebenbei auch noch kopfballstark ist. Oder vielleicht auch Kopfballstärke, die manchmal im Mittelfeld zu finden ist.

Und so war es die 65. Minute des WM Achtelfinales, Belgien lag trotz seiner enorm spielstarken Offensive 0-2 gegen Japan zurück, als Trainer Roberto Martinez den Entschluss fasste, gegen die nicht gerade großgewachsenen Japaner die eigene Lufthoheit noch mehr auszunutzen und Fellaini brachte. Zehn Minuten später erzielte dieser den Ausgleich, per Kopf, wie auch schon der Anschlusstreffer gefallen war.

Und weil Lufthoheit in dieser WM der Standardtore immer gut ist, stand Fellaini auch in den kommenden beiden KO-Spielen in der Startelf. Ironischerweise war auch er es, der im Halbfinale das entscheidende Kopfballduell gegen Samuel Umtiti verlor. Frankreich warf die Belgier aus dem Tunier, mit 1-0, durch ein Kopfballtor nach einer Ecke. 

Heute findet das Spiel um Platz drei statt. Für die Mannschaften und die Fans selten ein Highlight, über das man viel berichten müsste, für uns ein idealer Moment auf die Entwicklungen bei dieser WM zu schauen.

Denn Fellaini und den Belgiern gegenüber steht England, jenes Team, das auf dem Weg dorthin ganze Neun seiner Zwölf Turniertore aus ruhenden Bällen erzielte und damit einen Maßstab setzte für etwas, was sich durch das ganze Turnier zog. Ich hab mir die Mühe gemacht und alle Tore dieser WM (bis nach den Halbfinals) mal in Kategorien eingeteilt.

Die erste Erkenntnis, 70 der 161 Tore fielen direkt oder indirekt aus Standardsituationen, das entspricht 43,5%, gegenüber 91 Toren aus dem laufenden Spiel. Vier Teams waren ausschließlich nach Standards erfolgreich (Iran, Australien, Costa Rica, Polen, alle Zwei Tore), wohingegen nur zwei alle ihre Tore aus dem Spiel erzielten (Senegal, 4 Tore und Peru, 2 Tore).

Es scheint also, dass sich viele Mannschaften sehr schwer tun, spielerisch zum Torerfolg zu kommen. Die Mannschaft mit den meisten Toren aus dem Spiel sind dabei tatsächlich Fellainis Belgier mit Elf Treffern, davon allerdings Sieben in den Gruppenspielen gegen Tunesien und Panama. Es folgen Kroatien (9) und Brasilien (7 Tore).

Die Standards sind dabei recht schnell behandelt.  Es gab, auch dank des Videobeweises, recht viele Elfmeter, daraus resultierten 22 Elfmetertore. Dazu Sieben Tore aus direkten Freistößen und 41 nach einer Hereingabe aus einem ruhenden Ball. Die Häufung nach Ecken und Freistoßflanken ist auffällig, allerdings in Ermangelung anderer Offensivkonzepte eine Möglichkeit, die recht schnell einzustudieren ist.

Neue Ideen hat hier eigentlich nur die angreifende Mannschaft zu entwickeln, wohingegen die Verteidigung von Standards irgendwann nicht weiter optimierbar ist. Doch als Erklärung für die Häufung von Standard-Toren sind die Tore, die aus dem offenen Spiel fallen eigentlich der interessantere Teil der Statistik.

 

Fellaini in einem Spiel gegen die USA. (Foto: Erik Drost/Wikimedia cc-by-sa3.0)

Denn mich hat interessiert: Wodurch fallen eigentlich aus dem Spiel heraus Tore und welche Qualitäten der angreifenden Mannschaften/Spieler sind dafür entscheidend. Denn eine Hauptursache des hohen Anteils der Standardtore dürfte darin zu finden sein, dass die Verteidigungsarbeit auch bei individuell schwächeren Mannschaften immer geordneter wird.

Um eine sicher und tief stehende Mannschaft zu überwinden, ist also etwas außergewöhnliches nötig. Erste weitere Abgrenzung also: Kontertore. Dazu zählen in diesem Fall alle Tore, bei denen die verteidigende Mannschaft nicht in ihrer Grundordnung war.

Ergebnis: 31. Auf der anderen Seite 60 Tore aus dem Spiel heraus, bei denen die Verteidigende Mannschaft bis auf wenige Sekunden vor dem Tor alles im Griff hatte, durch die eigene Ordnung (oder in genau einem Ausnahmefall durch eigenen Ballbesitz). 31 Tore entstanden durch gutes Pressing oder einfach schnelles Umschalten nach gescheiterten gegnerischen Angriffen oder Standards.

Viel? Angesichts der Entwicklung der letzten Jahre eigentlich nicht (wie bei allen anderen Werten gilt allerdings dass ich keinerlei Vergleichzahlen habe, Einschätzungen also subjektiv).

Was nun knackt aber eine Abwehr, die sich in ihrer gewollten Ordnung befindet. Dazu eine ganze Reihe weiterer Kategorien. Zum einen individuelle Fehler, hier wirklich nur im engeren Sinne zu sehen als Situationen, in denen dem Stürmer die Chance auf dem Fuß serviert wurde oder klare Torwartfehler und nicht als taktisches Fehlverhalten, Situationen, in denen nicht die Qualität des Angreifers, sondern eher die mangelnde ihres Gegners die entscheidenden Faktoren waren.

Zum Zweiten Distanzschüsse. Für diese Kategorie war für mich nicht nur entscheidend, aus welcher Entfernung der Schuss abgegeben wurde, sondern auch, ob noch ausreichend Gegenspieler hinter dem Ball waren, sodass die Situation ohne den Abschluss nicht sonderlich gefährlich gewesen wäre. In diesem Fall ist recht klar, was die Abwehr geknackt hat, die individuelle Qualität des Schützen.

 

Icon Ergebnisse

Die 91 aus dem Spiel erzielten Tore der WM 2018 eingeteilt in verschiedene Kategorien:

 

 

Nächste Kategorie wären Flanken. Hereingaben von der Seite, die direkt oder nach Weiterleitung mit Kopf oder Fuß im Tor gelandet sind. Dazu nötig klarerweise: gute Flanken und starke Laufwege sowie Abschlüsse und im Zweifel Kopfballspiel des Stürmers. Nicht in diese Kategorie fallen Kopfballtore nach gezielten Chip-Bällen aus zentraler Position (Paulinho, Augusto, Lukaku vs. Panama).

Dazu kommt eine Kategorie, die ich Zufälle genannt habe. Entscheidend dabei nicht der Abschluss , sondern, dass entweder Schütze oder Vorbereiter an den Ball kamen, ohne dass das von einem Mitspieler so geplant war. Typisch wären hier Abpraller, abgewehrte Flanken, etc.
Auch um Tore in diesen Kategorien zu provozieren, gehören Qualitäten dazu, der viel Beschworene „Torriecher“, aber vor allem Dominanz im Mittelfeld, um möglichst viele solcher Situationen in des Gegners Strafraum zu haben, aus denen mit etwas Glück Tore entstehen könnten, dazu möglichst wenige im eigenen, eine Fähigkeit, die gleichsam auch beim provozieren der Standardsituationen hilft

 

Coutinho im Training der Selecao. (Foto: Oleg Bkhambri/Voltmetro cc-by-sa3.0)

Zu guter Letzt die wichtigste Kategorie. Herausgespielte Tore. Kriterium hierfür: Gegen eine geordnet stehende Abwehr mindestens Zwei gezielte Pässe bis zum Torschützen, der den Ball schon in einer Zone bekommt, die vom Gegner als gefährlich eingeschätzt wird. (andernfalls wären die Tore in die Kategorie Distanzschuss oder Einzelaktion gefallen, letztere existiert nur deswegen nicht, weil sie exakt Null Einträge gehabt hätte).

Das impliziert, dass die spielerische Qualität von mindestens Zwei Akteuren entscheidend für den Torerfolg war. Um geordnet stehende Gegner spielerisch zu knacken benötigt es kreative Ideen, Spieler wie Philippe Coutinho oder Kevin de Bruyne zeigten bei der WM, dass dies durchaus möglich ist. Gleichzeitig benötigt es natürlich Passempfänger, die die Idee aufnehmen, sich entsprechend bewegen und den Ball dann auch im Tor unterbringen. Das absolute Resultat in dieser Kategorie ist jedoch ernüchternd: 19 Tore. Ich gebe zu, die Kriterien sind recht eng gefasst, aber 19 Tore von 162, das sind 11,8 Prozent oder auch 0.3 herausgespielte Tore pro Spiel. Keine allzu überwältigende Zahl.

Führend in dieser Kategorie übrigens Brasilien und Tunesien mit jeweils Drei Treffern. Den Tunesiern gelangen allerdings zwei dieser Drei Treffer gegen Panama, das nicht gerade mit der besten Abwehrleistung des Turniers aufwartete. Bei den Brasilianern waren diese Aktionen die beiden Chipbälle von Coutinho auf Paulinho und Renato Augusto sowie der Doppelpass zwischen Neymar und Willian die in diese Kategorie fallenden Aktionen.

Warum also fallen die Tore so wie sie fallen? Warum so wenig herausgespielte Tore, warum keine Tore nach Sololäufen, warum verhältnismäßig wenige Kontertore? Eine Ursache ist wie gesagt sicher in der vorsichtigen Herangehensweise und immer professioneller werdenden Abwehrarbeit der Teams. Das berühmte „sicher stehen und Standardsituationen sind schneller einzustudieren als Angriffsspielzüge und Nationalmannschaften sind nicht so lange beisammen wie Vereinsmannschaften“.

Was diesen Trend aber noch verstärken dürfte ist, dass je weniger temporeiche Aktionen es gibt, diese umso leichter zu verhindern sind, nämlich per Foul. Das gilt sowohl für Konter als auch für Tempoverschärfungen im Angriffsspiel. Das macht es Solokünstlern schwer. Wenn jemand Zwei Gegner stehen lässt, wird er halt vom Dritten umgesenst, ähnliches gilt für Kombinationsspiel in gefährlichen Zonen.

Die gelbe Karte wird da gerne in Kauf genommen, vor allem wenn solche Situationen im Spiel gar nicht so häufig vorkommen. Dazu kommt, dass nicht mal diese gelbe Karte bei der WM mehr konsequent gezückt wurde, die kulante Linie der Schiedsrichter wurde von Kommentatoren durchweg gelobt. Meiner Meinung nach ist die Entwicklung jedoch bedenklich, die kurzfristigen Folgen mögen positiv sein, doch mittelfristig führt dies zur Verhinderung von herausgespielten Torgelegenheiten, da man sich mehr und mehr taktische Fouls erlauben kann.

Mit den Möglichkeiten, dieser und weiteren (Fehl-)Entwicklungen entgegenzuwirken,werden wir uns weiter beschäftigen. Nach der WM startet eine Kolumne zum Thema Regelauslegungen und die Zukünftige Entwicklung des Fußballs.


 
Die Highlights zum Spiel um Platz 3 sowie dem großen WM-Finale zwischen Frankreich und Kroatien gibt es beiDAZN.

DAZN WM 2018


Thomas Moch
Seit 2014 bei Cavanis Friseur. Schreibt über den spanischen Fußball. Weil er Spanien mag. Und Fußball. Und erst recht spanischen Fußball.

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