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Ausbruchstimmung am Vesuv: SSC Napoli in der Analyse

Doch, Liverpool ist ein würdiger Gast. Die Reds standen Ende Mai 2022 immerhin im Finale von Paris. Nun dürfen sie zum Auftakt in die neue Champions League-Saison nach Neapel reisen. Dort empfängt sie die heuer noch ungeschlagene SSC Napoli: Und die wartet bereits sehnsüchtig. Denn am Mittwoch wird zum ersten Mal seit mehr als zweieinhalb Jahren die Champions League-Hymne durch das weite Rund in Neapel schallen und die Besten besingen.

So viel ist auch vor Bekanntgabe der Aufstellungen klar: Das letzte Mal stand eine gänzlich andere Mannschaft für Napoli auf dem Platz. Von den elf Spielern, die im Februar 2020 das Achtelfinal-Hinspiel gegen Barcelona begannen, verließen sieben mittlerweile den Verein. Auch zwei von drei eingewechselten Spielern sowie der Trainer, der sie brachte, sind nicht mehr in Neapel tätig. Im Süden Italiens passierte viel, bis sich Napoli erneut in der Königsklasse präsentieren durfte.

Vor der Begegnung mit Liverpool blicken wir auf die Entwicklung der SSC zurück, widmen uns Spielweise, Schlüsselspielern sowie Shootingstars und klären, warum die Partenopei dem bisherigen Saisonstart sicherlich noch nicht trauen.

Ein Text von Sebastian Kahl.

 

Rückblick: Von Sarrismo zu Gattuso

Ein Rückblick: Von 2015 bis 2018 prägte Maurizio Sarri bei Napoli eine Ära. Seine Mannschaft gewann ob ihrer Spielweise europaweit Ansehen, aber keine Titel. Unter Sarri dominierte Napoli Spiele mit hohem Ballbesitz und konstantem Pressing im vordersten Drittel. Der Sarrismo ist intensiv, verlangt Spielern physisch und psychisch eine Menge ab. Zweimal schloss Napoli so die Liga als Zweiter hinter Juventus ab.

2017/18 reichten sogar 91 Punkte nicht zum Scudetto, den Juventus sich mit 95 sicherte. Sarri setzte lediglich 23 Spieler in 38 Ligaspielen ein; möglicherweise ein Grund, warum Napoli ab März vermehrt Punkte liegen ließ. Im Sommer 2018 verabschiedete sich Sarri in Richtung London und nahm Spielmacher Jorginho gleich mit zu Chelsea.

Bei Napoli übernahm indes Carlo Ancelotti – eine nachvollziehbare Verpflichtung, schließlich war Ancelotti auf Titel abonniert und sollte den Partenopei endlich zum ersten Scudetto seit 1990 verhelfen. Es kam anders. Zunächst trat Napoli noch auf der Stelle (schloss 2018/19 erneut als Zweiter ab) bzw. entwickelte sich zurück (nun betrug der Rückstand auf Juventus elf statt vier Punkte). Einen weiteren Versuch durfte Ancelotti nicht vollständig begleiten.




 

Zwar ging Napoli ungeschlagen durch die Gruppenphase der Champions League 2019/20 – u. a. gegen Liverpool – nach der Partie gegen Salzburg Anfang November kam es allerdings zum Eklat. Klubchef Aurelio De Laurentiis hatte ein Trainingslager anberaumt, das irgendwo zwischen Straftraining und Selbstfindung firmierte. In der Liga stand Napoli zu diesem Zeitpunkt auf einem eher mäßigen siebten Rang. Die Spieler sahen die Gründe dafür beim Trainer und weigerten sich, der Anweisung zum Trainingslager Folge zu leisten.

Auch Ancelotti widersprach öffentlich der Notwendigkeit einer solchen Maßnahme, genoss nun weder bei der Klubführung noch innerhalb der Mannschaft Rückendeckung. Mitte Dezember war für ihn Schluss in Neapel.

Nachfolger Gennaro Gattuso verwaltete den siebten Rang und das Aus im Achtelfinale der Champions League. Immerhin gewann Napoli nach Elfmeterschießen im Finale gegen Juventus die Coppa Italia 2020 – die erste Trophäe seit der Coppa 2014. Eine Saison ohne Champions League ließ sich in Neapel (auch finanziell) verschmerzen; doch verpasste die SSC auch 2020/21 den Einzug in die Königsklasse.

Und das denkbar knapp am letzten Spieltag: Das Heimspiel gegen Hellas Verona endete 1:1, während Juventus im Fernduell dank eines 4:1 in Bologna an Napoli vorbeizog. Gattuso holte aus seinen Mitteln insgesamt wohl noch das Bestmögliche heraus. Zeitweise hatten die Partenopei mit vielen Verletzungen zu kämpfen.

Für eine Begegnung mit Granada in der Europa League waren nur 12 Spieler einsatzfähig. Trotz passabler Ergebnisse entsprach die Spielweise nicht dem, was Fans von Napoli gewohnt waren. Zu viel basierte auf der Qualität von Einzelspielern; zu selten bot Napoli eine kontrollierte Vorstellung. Auch für Gattuso war nach eineinhalb Jahren in Neapel Schluss.

Einem Cincinnatus gleich stieg Luciano Spalletti von seinen Weinhängen in der Toskana herab und übernahm im Sommer 2021 das Zepter bei den Gli Azzurri. Warum ihn der Ruf ereilte, wird schnell klar: Mit Empoli gelang ihm einst der Aufstieg. Mit der Roma holte er zwei zweite Plätze, zweimal die Coppa und wurde zweimal Trainer des Jahres. Auch einem taumelnden Inter verhalf er wieder auf die Beine. Und vielleicht am wichtigsten: Bei Roma und Inter verbesserten sich seine Teams sofort merklich, was direkt in höheren Platzierungen resultierte.

So auch bei Napoli, die mit acht Siegen in die Saison 2021/22 starteten. Zwei Jahre lang hatte sich Spalletti nach seiner Entlassung bei Inter zurückgezogen und dem Weinanbau gewidmet. Fußball habe er in dieser Zeit aber immer weiter studiert, insbesondere Angriffsfußball, der Gegner immer wieder neue Fragen stelle. Nun konnte er seine Erkenntnisse in die Praxis überführen.

 

Napoli in der Analyse: So ließ Spalletti im ersten jahr spielen

Napoli dominierte seine Gegner in 2021/22 mit dem ligaweit höchsten Ballbesitz, 58,5 % im Durchschnitt. Ebenfalls ein Spitzenwert waren die 85,7 % angekommene Pässe – gleichauf mit Lazio, Sarri lässt grüßen. (Die beiden Teams pflegen den wohl ausgeprägtesten Stil der Serie A.) Napoli hielt den Ball grundsätzlich auf dem Boden, baute das Spiel im 2-4-4 oder 2-3-5 mit einem breiten Abstand zwischen den Linien auf. Keine Mannschaft war besser, den Ball in die Hälfte des Gegners und in dessen Strafraum zu tragen.

Nur wenige Mannschaften gewannen den Ball häufiger durch hohes Pressing zurück. Napoli presste intensiv im vordersten Drittel, ließ sich bei Misserfolg in einen tiefen Block zurückfallen. In der eigenen Hälfte standen sie horizontal und vertikal kompakt im 4-4-2 gegen den Ball.

Ein spezieller Wert misst, wann Torhüter defensiv in das Spielgeschehen eingreifen. In der vergangenen Saison tat das kein Keeper tiefer als David Ospina. Das Zusammenspiel mit seinen Innenverteidigern Koulibaly und Rrhamani machte Napoli zu einem Bollwerk und reduzierte die Qualität gegnerischer Chancen. Kein Team erzielte einen besseren Wert bei den xGA – von den zu erwartenden 31,9 Gegentoren verwandelten Napolis Gegner 31. Drei davon gingen auf das Konto von Inter, die am 13. Spieltag als erster die Kampanier bezwingen konnte.

Das war für die Partenopei der Beginn einer Schwächephase, in der sie die Tabellenführung verloren und nicht zurückgewinnen konnten. Insgesamt verbesserten sie sich dennoch im Vergleich zum Vorjahr vom fünften auf den dritten Rang.


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Aktuell steckt Napoli jedoch mitten in einem gewaltigen Umbruch. Mit Torwart David Ospina, Innenverteidiger Kalidou Koulibaly, Mittelfeldspieler Fabián Ruiz und Außenstürmer Lorenzo Insigne verließen vier unangefochtene Stammspieler den Verein: jeder von ihnen kam in vergangenen Saison auf jeweils mehr als 2.300 Einsatzminuten. Koulibaly formte gemeinsam mit Amir Rrahmani ein formidables Duo im Zentrum der Abwehr. Davor gab Ruiz den Taktgeber mit herausragender Präsenz. Kapitän Insigne war mit elf Toren und neun Vorlagen der Topscorer der Partenopei.

Als fünfter wichtiger Abgang verließ Dries Mertens nach neun Jahren Neapel. Zwar nicht mehr mit ganz so vielen Minuten bedacht wie einst, war Mertens mit elf Toren und zwei Vorlagen immer noch eine veritable Option im Angriffsspiel und als Rekordtorschütze des Vereins ohnehin wichtiger als die puren Leistungsdaten. Fans warfen Eigentümer De Laurentiis derweil vor, ein volles Portemonnaie sei ihm wichtiger als zu gewinnen.

Dabei brachte einzig der Verkauf von Koulibaly eine nennenswerte Ablöse. Chelsea ließ sich den Verteidiger 38 Millionen Euro kosten. Weitere acht Millionen Euro erhielt Napoli von Juventus für den Verkauf von Arkadiusz Milik, der in der vergangenen Saison bereits an Olympique Marseille ausgeliehen war. Entscheidender als Ablösesummen dürften die Einsparungen im Gehaltsgefüge sein, in dem Koulibaly, Insigne und Mertens wohl die vorderen Plätze belegten.

Die Neuzugänge diesen Sommers sind nun Marke Eigengewächs bzw. Schnäppchen. Zunächst trägt die Jugendarbeit Früchte: Gianluca Gaetano und Alessio Zerbin kehren von Leihen zurück, sind talentiert und vielseitig einsetzbar. Gaetano brillierte im zentralen Mittelfeld von Cremonese, trug mit sieben Toren und fünf Vorlagen entscheidend zum Aufstieg der Grigiorossi bei. Außenstürmer Zerbin erzielte bei Frosinone in der Serie B neun Tore, legte drei weitere auf. Die beiden könnten möglicherweise mit einer weiteren Leihe anderswo zusätzliche Erfahrung sammeln.

Auf dem Level der Serie A erprobt sind hingegen Giacomo Raspadori und Giovanni Simeone, die von Sassuolo respektive Hellas Verona ausgeliehen sind. Raspadori gelang 2020/21 der Durchbruch, er durfte anschließend mit zur Europameisterschaft. Simeone erzielte für Verona in der vergangenen Saison 17 Tore, legte sechs weitere auf. Währenddessen wurde die Leihe von André Zambo Anguissa in einen permanenten Deal umgewandelt und Tanguy Ndombélé von Tottenham ausgeliehen.

Weitere Neuzugänge in der Defensive sind für elf Millionen Euro Linksverteidiger Mathías Olivera von Getafe und für 18 Millionen Euro Innenverteidiger Min-jae Kim von Fenerbahçe. Mit seinen 1,90 Meter ist Kim sowohl am Boden als auch in der Luft ein zweikampfstarker Verteidiger. Dank seiner Statur und Kopfballstärke ist er eine echte Waffe bei Standards. Da ist Napoli ohnehin gefährlich: In 2021/22 erzielten sie so in 38 Ligaspielen 16 Tore, nur Roma und Udinese gelang jeweils eines mehr. In 2022/23 sind es bereits vier in fünf Spielen. Zwei davon erzielte Kim per Kopf nach Ecke.

 

Die Speerspitze

Für Tore sorgt bei Napoli aber grundsätzlich ein anderer: Victor Osimhen dürfte der erste Name sein, den Spalletti auf dem Mannschaftsbogen notiert. Osimhen funktioniert als einzelne Spitze im 4-2-3-1, wo er die Linie anführt. Oder aber im 4-4-2 wie häufig bei Lille, wo er im Sommer 2019 als Ersatz für Nicolas Pépégeholt wurde. In 2019/20 erzielte er prompt 13 Tore in 27 Spielen. Markant waren die 4,4 aerial duels, die er dort im Schnitt pro Partie gewann.

Bereits nach einer Saison in Lille wechselte Osimhen nach Neapel. Für den damals 21-Jährigen griff De Laurentiis dann doch tief ins Portemonnaie und zog 75 Millionen Euro heraus. Nach einer Covid-geplagten Premierensaison verbesserte sich Osimhen von 10 auf 14 Tore bei 24 respektive 27 Einsätzen und sicherte sich die Auszeichnung als bester junger Spieler der Serie A 2021/22. Mit seinen nun 23 Jahren hat er außerdem 22 Länderspiele für Nigeria bestritten und dort 15 Tore erzielt.

Bei 1,86 Meter ist Osimhen athletisch, schnell und beweist ein exzellentes Stellungsspiel. Dabei lauert er auf Höhe der Defensivlinie und will den Raum hinter ihr ausnutzen. In Umschaltsituationen kann er seine Geschwindigkeitsvorteile gegenüber gegnerischen Verteidigern ausspielen.


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Entweder ist er dann selbst Zielspieler, oder er bindet Gegenspieler und öffnet mit täuschenden Läufen Räume für nachrückende Mitspieler. Ins Offensivspiel ist er zumeist als Endstation eingebunden. Osimhen sucht dabei eher selbst den Abschluss als den Mitspieler. Tatsächlich gaben in der vergangenen Saison nur Lautaro Martínez (4,38) und Paulo Dybala (4,28) mehr Schüsse pro 90 Minuten ab als Osimhen (4,13). Auf 100 Ballberührungen umgerechnet, ist europaweit nur Anthony Modeste (14) noch häufiger am Abschluss als Osihmen (13,9).

In den ersten fünf Ligaspielen blieb die SSC ungeschlagen. Auf zwei dominante Auftritte bei Hellas Verona (5:2) und gegen Monza (4:0) folgten zwei ernüchternde bei Fiorentina (0:0) und gegen Lecce (1:1). Das zeigt: Auf die Rätsel, die Spallettis Truppe ihren Gegnern aufgibt, lassen sich (noch) Antworten finden. Wer tief steht, raubt Osimhen den wichtigen Raum für seine Steilpässe. Für schnelle Kombinationen mit seinen Mannschaftskameraden mangelt es ihm an Technik. Noch fehlt es Napoli an einem Plan B, wenn Gegner dann zusätzlich die Außenspieler doppeln.

Am Samstag durfte die Partie bei Lazio dann als erster echter Test gelten – ob der Qualität des Gegners (Lazio hatte in der Woche zuvor bereits Inter mit 3:1 geschlagen) – und weil Napoli nach wenigen Minuten bereits in Rückstand geriet. Zeitweise wirkten die Neapolitaner davon frustriert, anschließend ungeduldig; konnten sich Mitte der ersten Halbzeit aber berappeln und noch vor der Pause ausgleichen: Kim per Kopfball nach einer Ecke. Und in Halbzeit zwei übernahm Napolis vermutlich wichtigster Neuzugang …

 

Der Zungenbrecher

Wer es sich einfach machen will, sagt einfach Kvara, wer Vorschusslorbeeren verteilen will, Kvaradona. Damit ist die Erwartungshaltung schon geklärt, drunter geht’s nicht. Als Ersatz für Insigne holte Napoli für schmale zehn Millionen Euro Khvicha Kvaratskhelia von Dinamo Batumi aus Georgien. Die Vergleiche mit Maradona ereilten den 21-jährigen Georgier bereits vor seinem ersten Einsatz für Napoli, bei dem er direkt sein erstes Tor erzielte.

Gegen Monza gelang ihm ein Doppelpack und spätestens dann mussten die Kommentatoren seinen Namen aussprechen können, denn ein Treffer war sehenswerter als der andere. Kvaratskhelia ist ein Bündel roher Energie, schlägt Gegenspieler mit purer Schnelligkeit, Körpertäuschungen, oder feiner Technik am Ball. Seine Schussstärke macht ihn ab einer Entfernung von 25 Metern gefährlich. Im Gegensatz zu Insigne, der sich häufig fallen ließ, um sich in den Spielaufbau zu integrieren, orientiert sich Kvaratskhelia deutlich weiter vorn und bewegt sich vom Ball weg. Er spielt knapp halb so viele Pässe, geht dafür doppelt so oft ins Dribbling. Im Spiel bei Lazio offenbarte er nach der Pause alle seine Qualitäten, fegte wie ein Derwisch durch die Abwehr der Laziali und erzielte den Siegtreffer zum 2:1 scheinbar aus schierem Willen.

Die aktuelle Tabelle ist natürlich nur eine Momentaufnahme. Es wird spannend zu beobachten, wie sich die neue Mannschaft in Neapel findet und entwickelt. Optionen hat Spalletti insbesondere in der Offensive so einige. Hinter Osimhen kristallisiert sich als erste Wahl eine Reihe aus Kvaratskhelia, Zielinski und Lozano heraus, die so jeweils die siegreichen Partien bestritt.

In den beiden Remis rotierte Spalletti. Elmas, Raspadori, Politano, Simeone werden ihre Einsatzzeiten bekommen. Die Kadertiefe könnte insbesondere in der Champions League entscheidend werden, zumal Lozano am Samstag verletzt ausgewechselt wurde. Nicht jede Zusammenstellung wird passen und sofort greifen. Aber es ist auch nicht der erste Umbruch für Napoli. Abgänge von Cavani, Hamsik, oder Higuaín wurden einst kompensiert. In der aktuellen Mannschaft steckt jedenfalls viel Potential. Der Vesuv brodelt.

Ein Text von Sebastian Kahl.

(Titelbild: ©Getty Images/Amadeus Marzai)

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