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Chris Boucher: Das Einhorn aus Montréal

Chris Boucher war eine der Entdeckungen des letzten NBA-Jahres. Dabei spielt er organisierten Basketball erst seitdem er 19 ist. Die bewegende Geschichte einer Kämpfernatur.

Flache – wie Schuhkartons aneinandergereihte – Mietshäuser aus Backstein, marode Straßen und der alles dominierende soziale Niedergang, bedingt durch die Schließung zweier gigantischer Steinbrüche. Montréal Saint-Michel dürfte wenig einladend auf den fünfjährigen Christopher gewirkt haben, als dieser 1998 mit seiner Mutter Mary in das Arbeiterviertel zog.

Kurz zuvor hatte er noch in seiner karibischen Inselheimat St. Lucia Kokosnusspalmen erklommen und den Großteil der Tage an malerischen Stränden verbracht.

In der tristen Nachbarschaft von Saint-Michel trifft Christopher auf seinen kanadischen Vater Jean-Guy. Jedoch trennen sich die Eltern und wie so viele Scheidungskinder steht auch der inzwischen neunjährige Chris zwischen den Stühlen.

Um sich von den Familienproblemen und der alltäglichen Gewalt auf den Straßen Nord-Montréals abzulenken, frönt er dem Fußball, Feldhockey und ¬– wie sollte es in Québec anders sein – dem Eishockey.

Montréal-Nord
© Axel Drainville/flickr

Mit dem orangefarbenen Leder hingegen kommt der sportbegeisterte Jugendliche auf den Streetball-Plätzen Montréals in Berührung. „Wenn ich Basketball spielte, habe ich nie über meine Probleme nachgedacht. Ich war nicht gestresst und habe es wirklich genossen. Es hat einfach nur Spaß gemacht.“

Doch die familiären Spannungen nehmen zu. Mit dem neuen Partner seiner Mutter kommt Boucher nicht zurecht, beim strengen Vater will er aber auch nicht leben. Also entscheidet er sich, die elterliche Obhut zu verlassen und pendelt auf der allabendlichen Suche nach einem Schlafplatz zwischen Freunden und einer Tante. An manchen Tagen sieht sich der Teenager gar gezwungen, im Nachtbus zu schlafen.

Mit 16 ist Boucher obdachlos, die High School hat er abgebrochen. Um sich über Wasser zu halten, arbeitet er in einem Fastfood-Restaurant, unter anderem als Tellerwäscher.

„Meine Freunde waren auf Partys gut gekleidet und hatten Sachen, die ich nicht hatte. Es tat weh. Ich hatte kein neues Handy. Ich hatte keine neuen Schuhe. Während meine Freunde bei McDonalds ein Menü bestellten, habe ich nur einen Burger gegessen. Solche Sachen haben mich echt gestört“, blickt Boucher zurück.

 

Eine unverhoffte Chance

Im Juli 2012 nimmt der Heranwachsende, der nach zwei Jahren Obdachlosigkeit inzwischen bei seinem Vater wohnt, an einem seiner freien Tage an einem lokalen Basketballturnier teil. Bouchers Mannschaft besteht allein aus befreundeten Freizeitspielern aus den Problembezirken Montréals.

Gegen Brookwood Elite, eines der besten AAU-Teams des östlichen Kanadas, wird man erwartungsgemäß vom Platz gefegt. Loïc Rwigema ist dennoch beeindruckt: „Da war dieses große, schlaksige aber athletische Kind“, erinnert sich der Talentspäher. „Er hat nicht aufgegeben, und obwohl sie mit 50 verloren haben, hat er 40 Punkte gemacht“.

Rwigema macht seinen Bruder Igor, der im weit entfernten Hinterland von Québec ein Basketballprogramm für Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen betreut, auf seine Entdeckung aufmerksam.

Für Boucher ist es die unverhoffte Chance, der Perspektivlosigkeit in Montréal zu entfliehen. „Das war ein Gamechanger für mich. Es gab mir Stabilität. Ich ging zurück zur Schule und musste mir keine Sorgen mehr machen, was der nächste Tag bringen würde.”

In der behutsamen Umgebung des College d’Alma spielt Boucher mit 19 Jahren das erste Mal im Leben organisierten Basketball. „Er lernte alles so schnell, er war wie ein Schwamm“, blickt Coach Igor Rwigema zurück.


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Nachdem Boucher seinem Team zur Meisterschaft verhilft und den Schulabschluss nachholt, wechselt er an ein Junior College in New Mexico. Nach einem enttäuschenden Jahr in der Chihuahua-Wüste geht es weiter ans Northwest College in Wyoming. Dort wird der Rohdiamant NJCAA Spieler des Jahres sowie First Team All American.

Nach dieser Ochsentour durch die nordamerikanische Provinz stehen 2015 zahlreiche Division I-Universitäten Schlange. Boucher entscheidet sich für die University of Oregon.

In Eugene erhält der spindeldürre Neuzugang einen kalorienreichen Ernährungsplan, den er um regelmäßige Besuche in der nahegelegenen Subway-Filiale ergänzt.

Zweifel, ob der drahtige Kanadier in der College-Eliteliga überhaupt mithalten könne, zerstreut Boucher schnell. Für die Ducks beweist sich der Montréaler als furchtloser Shotblocker, der mit seinem Team gleich im Junior-Year ins Elite Eight des NCAA-Turniers einzieht.

Als Rim Protector und respektabler Dreierschütze verfügt Boucher über ein seltenes Skillset, welches ihm neben dem Beinamen „Unicorn“ auch eine Cover-Story in der Sports Illustrated einbringt.

Chris Boucher
© Steve Dykes/Getty Images

In der Historie der Pac-12-Conference ist er der erste Spieler, der in einer Spielzeit über 100 Blocks und mehr als 30 verwandelte Dreier auflegt. Seit 1996 war dies keinem Division 1-Spieler mehr gelungen. Der Weg in die beste Basketballliga der Welt scheint vorgezeichnet.

Kurz vor Beginn der March Madness 2017 macht ein Kreuzbandriss allerdings nicht nur einen Strich durch Oregons Titelträume, sondern auch durch Bouchers NBA-Ambitionen. Beim Draft, der alljährlichen Talentziehung, fällt er glatt durch. Zu dünn, keine Post-Moves und eine fragwürdige Wurfhaltung, so die geläufigen Kritikpunkte.

Stattdessen muss sich „Slim Duck“ mit einem Bankplatz im G-League-Team der Warriors arrangieren. „Es war das härteste Jahr meines Lebens“, reflektiert er später. „Ich habe mich oft gefragt, warum ich überhaupt noch spiele und wusste, dass ich niemals wieder so springen könnte wie zuvor. Ich wollte aufgeben und hatte die Reha satt.“

Aber Boucher, dessen Motto „Grind Now, Shine Later“ ist, beißt sich durch. Jedoch fremdelt der ehemalige College-Star mit seiner neuen Rolle als Ergänzungsspieler in der Minor League. „Ich war so sauer auf die Trainer und habe mich nicht mehr wirklich auf Basketball konzentriert. Ich habe nicht mehr so hart gearbeitet und weil ich es nicht ernst meinte, haben sie mich tatsächlich entlassen.”

 

„Ich wollte jeden töten“

Die Verheißung einer NBA-Karriere – vor nicht allzu langer Zeit noch zum Greifen nah – scheint 2018 so schnell verschwunden, wie sie einst gekommen war. Bouchers Reise hält aber schon die nächste Wendung bereit.

Die Toronto Raptors, die seit Jahren vergeblich der Larry O’Brien-Trophäe hinterherjagen, sind auf ihrer Suche nach Rollenspielern auf ein ergiebiges Scouting-System angewiesen. Dementsprechend haben die Dinos den damals 25-Jährigen schon seit einiger Zeit auf dem Radar und zögern nicht lange, ihn für das Trainingslager 2018 unter Vertrag zu nehmen.

In einem Vorbereitungsspiel in seiner Heimatstadt Montréal wird Bouchers Einwechslung in der Garbage Time mit stehenden Ovationen gefeiert. Schließlich sind NBA-Spieler aus Kanadas zweitgrößter Stadt – Bill Wennington, Samuel Dalembert oder Joel Anthony zum Trotz – eine Rarität. Boucher revanchiert sich, indem er das Publikum mit zwei Dreiern und einer Rejection zum Kochen bringt.

Für die Raptors 905, die zuvor schon Fred VanVleet oder Pascal Siakam zu wichtiger Spielpraxis verhalfen, legt er in der G-League anschließend eine ganz andere Arbeitsmoral an den Tag als noch in Kalifornien: „Ich wollte sie wissen lassen, dass ich nicht dorthin gehöre. Ich wollte jeden töten, gegen den ich spielte.“

Obwohl er nur 28 Spiele in der Entwicklungsliga absolviert, wird Boucher zum ersten Akteur in der Ligageschichte, der sowohl als MVP und als bester Verteidiger ausgezeichnet wird.

„Swatterboy“ überzeugt so sehr, dass die Raptors ihn immer wieder in der ersten Mannschaft einsetzen und seinen Two-Way-Contract in einen garantierten NBA-Vertrag umwandeln. Das Pendeln zwischen Toronto und Mississauga über den Gardiner Expressway kann sich Boucher – der mit Englisch, Französisch, Kreol und Patois gleich vier Sprachen spricht – von nun an sparen.

Im Frühsommer 2019 spielt er dann sogar um die NBA-Championship. Auch wenn er beim Titelgewinn der Raptors sportlich keine Rolle spielt, ist Boucher immerhin der erste Kanadier, der mit einem kanadischen NBA-Team Champion wird.

Mit der Larry O’Brien-Trophäe im Arm kann er daraufhin eine triumphale Rückkehr nach Nord-Montréal feiern. Der Ort, den er sieben Jahre zuvor als perspektivloser Teenager verlassen hatte.

Unter Ägide der routinierten Bigs Marc Gasol und Serge Ibaka macht er 2019/20 den nächsten Schritt und erarbeitet sich einen festen Platz in der Rotation von Coach Nick Nurse. Als unermüdlicher Shotblocker von der Bank hat Boucher entscheidenden Anteil daran, dass die Titelverteidiger die beste Defense der Association stellen.

Das erste Mal ligaweit von sich reden macht er derweil im Dezember 2019, als er beim historischen 30 Punkte-Comeback gegen die Mavericks 21 Punkte und vier Blocks beisteuert.

 

Breakout in Tampa

Seinen Durchbruch erlebt der Québecer allerdings in der letzten Saison. Obgleich der 28-Jährige weiterhin von der Bank kommt, legt er zwischenzeitlich gar historische Zahlen auf.

So gelang es Boucher im Januar 2021 in vier Spielen in Folge, bei einer Wurfquote von 75% mindestens 20 Punkte aufzulegen. Nur einem gewissen Wilt Chamberlain ist dies in der NBA-Geschichte häufiger am Stück gelungen.

Mit auf 36 Minuten hochgerechnet 20.3 Punkten, 10 Rebounds, überragenden 2.8 Blocks und einer Dreierquote von 38.3 Prozent tyrannisiert der Power Forward Nacht für Nacht die zweite Garde des Gegners.

Die Herzen aller Analytics bringt er 2020/21 mit einer effektiven Wurfquote von 59.5 Prozent, einem Player Efficiency Rating von 21.9 sowie 0,201 Win Shares pro 48 Minuten (Platz 15 unter allen NBA-Profis) zum Schmelzen.

Hustle und seine Armspannweite von 2,24 Metern verhalfen Boucher zu einer weiteren beachtlichen Statistik: Kein NBA-Spieler blockte in der vergangenen Spielzeit mehr Dreier als Torontos Nummer 25.

Mit Boucher auf dem Parkett waren die aufgrund von Corona-Regularien in Tampa, Florida, beheimateten Raptors im Schnitt um 6.9 Punkte besser. Von den zehn Matches, in denen der Big Man 18 oder weniger Minuten zum Einsatz kam, konnten die Raptors nur zwei für sich entschieden.

Der wurf- und defensivstarke Energizer nimmt für Toronto von der Bank eine ähnliche Rolle ein wie vormals Ibaka, der den Great White North in der Offseason 2020 zusammen mit Gasol in Richtung Los Angeles verließ.

 
Stören tut sich Boucher an dieser Aufgabenbeschreibung aber nicht: „Ich denke, sie sehen ziemlich genau, was ich mache. Energie ins Spiel bringen, Defense spielen, Würfe blocken, in Transition rennen und offene Dreier nehmen. Das ist meine Rolle, ob ich starte oder nicht.“

Zwar erinnert Boucher mit 91 Kilogramm auf 2,06 Metern zuweilen eher an einen aufblasbaren Lufttänzer denn an einen NBA-Big und scheint aufgrund dessen nicht das vollumfängliche Vertrauen von Nurse zu genießen. Doch macht er fehlende Körperlichkeit mit einem unbändigen Willen wett.

„Wenn man einen Basketballspieler kreieren sollte, würde das Ergebnis wohl in keinster Weise Ähnlichkeit mit Chris haben“, bringt es Mitspieler VanVleet treffend auf den Punkt. „Aber wenn wir ein Spiel gewinnen müssen, würde ich ihn an jedem Tag in mein Team wählen. Ich liebe einfach das Feuer und Herz mit denen er spielt. Sowas ist unbezahlbar“, lobt der Guard, der selbst eins ungedraftet blieb.

 

Ungewisse Zukunft

Zwar verlief der Start in die aktuelle Saison mehr als holprig – es schien fast so, als hätte Boucher das Basketballspielen verlernt zu haben – doch hat er sich inzwischen in die Rotation zurückgekämpft und erinnert wieder zunehmend an den Unterschiedsspieler, der in der vergangen Saison aussichtsreicher Kandidat für gleich drei individuelle Auszeichnungen war (Sixth Man, Defensive und Most Improved Player).

Da Bouchers Vertrag im Sommer ausläuft und er mit 29 Jahren etwas zu alt für die Championship-Timeline der Raptors ist, ist er aber dennoch ein heißer Kandidat, um vor der Deadline am 10. Februar getradet zu werden. Aber wohin Bouchers Weg ihn auch führen wird, unser Protagonist wird sich anzupassen wissen.


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„Christopher ist zielstrebig, wenn er etwas will, wird er kämpfen, um es zu bekommen“, weiß auch Mutter Mary. „Er hat für sein Alter schon eine Menge mitgemacht und darum bin ich so stolz auf ihn, denn er hatte es nicht leicht.“

In der Tat: von Nächten ohne Schlafplatz und dem Dasein als Tellerwäscher über eine vielversprechende College-Karriere hin zum Kreuzbandriss und der Nichtberücksichtigung beim Draft. Von der Entlassung bei den Warriors zur wundersamen Wiederauferstehung als G-League MVP und NBA-Champion, samt 13 Millionen Dollar schwerer Vertragsverlängerung. „Slim Duck“ hat schon so einiges erlebt. Gar nicht Mal so schlecht für einen Streetballer aus Montréal Saint-Michel.

Titelbild: © Getty Images & Amadeus Marzai


Disclaimer: Dieser Artikel war im letzten Jahr in leicht abgeänderter Version für die Veröffentlichung im mittlerweile eingestellten Basketballmagazin FIVE vorgesehen. Wer sich für das Nachfolgeprojekt GOT NEXXT interessiert, hier entlang!

Amadeus Marzai
Fun Guy und leidenschaftlicher Streetballer. Seit er denken kann schlägt sein Herz für die Toronto Raptors. Im zweiten Leben Fußball-Fan, der eine Taktik nicht einmal dann erkennen könnte, wenn sein Leben davon abhinge. Für Cavanis Friseur reicht es trotzdem. Auch deshalb, weil Edinson Cavani neben Xabi Alonso sein All-Time Lieblingsspieler ist. Aufgrund seiner vielfältigen Interessen intern als „Random Amy“ verspottet. Einer von mehreren Weltmeister-Abiturienten im Team, der ausdruckstechnisch zu den brillantesten Friseuren gehört.

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