(Grafiken: Erstellt von Cavanis Friseur / © Footyrenders)
Hand aufs Herz. Wem von uns war ein gewisser brasilianischer Innenverteidiger Namens Felipe im Juni 2019 schon wirklich ein Begriff?
Keine Sorge falls sich jemand ertappt fühlt. Felipes Wechsel vom FC Porto zu Atlético Madrid ging, in einem für die Colchoneros ereignisreichen Sommer, tatsächlich nahezu unter.
Atléticos Superstar und Rekordtorschütze Antoine Griezmann beendete eine jahrelange Transfer-Saga mit seinem Wechsel nach Barcelona und als Nachfolger wurde das portugiesische Wunderkind João Félix für stolze 126 Millionen € verpflichtet.
Darüber hinaus stießen mit Marcos Llorente, Kieran Trippier, Mario Hermoso, Renan Lodi und Héctor Herrera (kam ebenfalls aus Porto) weitere namhafte Spieler zum Meister von 2014.
Der vielleicht wichtigste Umbruch gestaltete sich aber vielleicht gar nicht in der Offensive, sondern viel mehr in der Innenverteidigung.
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Denn Lucas Hernández wechselte nach München und Diego Godín, langjähriger Kapitän und Vereinslegende, verabschiedete sich nach 389 Spielen für die Hauptstädter gen Italien.
Den Anker der brillanten Atlético-Defensive sollte insbesondere ein Spieler ersetzen helfen, der trotz seiner 30 Jahre Lebenserfahrung auf gerade einmal 146 Spiele Erstliga-Erfahrung kam.
Nach einem turbulenten Jahr in Diensten der Madrider lässt sich feststellen, dass sich die Verpflichtung von Felipe mehr als gelohnt hat.
In bisher 32 Spielen fügte sich der teuerste Innenverteidiger der Vereinsgeschichte als Fels in der Brandung nahtlos in die Innenverteidigung um José María Giménez, Stefan Savić & Mario Hermoso ein.
Dabei ist es nicht einmal zehn Jahre her, dass er in Brasilien zum Profi wurde. Die Geschichte des Felipe Augusto de Almeida Monteiro ist sicherlich eine der ungewöhnlichsten im europäischen Spitzenfußball.
Von Pilzen & Traktor-Clubs
Felipes Weg zum Fußball war alles andere als vorgezeichnet. In einem Interview vor Saisonbeginn erklärte er dazu:
„Als Kind mochte ich Fußball zunächst nicht. Es begann mich zu interessieren, als ich sieben Jahre alt war und ich spielte bis ich zehn war. Aber ich hörte auf. Ich mochte Skateboarding, spielte Basketball und Volleyball. Ich war hyperaktiv. Erst mit 17 Jahren kehrte ich zum Fußball zurück.“
Doch die Rückkehr zum Nationalsport Brasiliens verlief zunächst nicht wie erhofft: „Mit 18 dachte ich, dass es das mit dem Fußball gewesen wäre. Er hatte mir nichts zu bieten. Ich wurde älter und wollte arbeiten, um nicht von meinen Eltern abhängig zu sein.“
Zu dieser Zeit arbeitete er für seine Schwiegermutter auf einem Markt in seiner Heimatstadt Mogi das Cruzes (auch Neymar kam in der Großstadt im Ballungsraum von São Paulo zur Welt) und belieferte umliegende Restaurants mit Pilzen.
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Gleichzeitig kickte er für den Amateurclub Veltra, die Werksmannschaft eines Traktor-Unternehmens, welche allerdings mit dem União Futebol Clube kooperierte. Dort begann Felipe in der 4. Liga der Staatsmeisterschaft von São Paulo seinen Aufstieg.
2011 absolvierte União zwei Vorbereitungsspiele gegen den Zweitligisten Clube Atlético Bragantino, heute Red Bull Bragantino. In diesen zog der Innenverteidiger das Interesse des Gegner auf sich und wechselte auf Leihbasis zu Bragantino in die zweite Liga Brasiliens.
Mit 22 Jahren wurde Felipe Profi im Tummelbecken der Série B. Dort setzte er sich auf Anhieb als Stammspieler durch und trug somit seinen Teil zum besten Abschneiden der Massa Bruta seit Jahren bei (Platz 6.).
Der athletische Verteidiger hatte sich nach nur einem Jahr als Profi und ohne eine der zahlreichen Jugendakademien durchlaufen zu haben, in die Notizbücher der brasilianischen Top-Clubs gespielt.
Anfang 2012 wurde er von Corinthinas São Paulo unter Vertrag genommen. Dabei hatte Corinthians den 14-jährigen Felipe einst nach einem Probetraining abgewiesen.
Ein ungeschliffener Diamant
Der Sprung aus der Zweitklassigkeit zu einem der meist dekorierten Clubs des südamerikanischen Kontinents erwies sich rückblickend als die größte sportliche Hürde seiner Karriere.
„Technik, Taktik und Positionierung. Es fehlte alles. Wenn ich zum Beispiel sehr kurze Ballkontakte trainierte, war ich nicht so begabt wie die anderen. Ich musste auch lernen, wie man mit dem Spielfeld umgeht. Es waren Dinge, die jeder Profi bereits verinnerlicht hatte. Ich musste all das erst lernen.“
Doch Tite (damaliger Corinthians-Coach und aktueller Nationaltrainer) und sein Trainerstab erkannten das Potenzial ihres ungeschliffenen Neuzugangs.
„Sie hatten enorme Geduld. Anfangs habe ich praktisch nur trainiert, habe nicht gespielt. Sie beruhigten mich, ließen mich wissen, dass ich enormes Potenzial hätte, aber dass an meinem Spiel gefeilt werden müsse. Sie haben mich Stück für Stück aufgebaut.“
Nachdem er fast zwei Jahre lang oftmals nicht Mal einen Platz im Kader fand, spielte er sich zum Ende der Saison 2014 in die Rotation des Top-Teams und avancierte in der folgenden Spielzeit zur Stammkraft.
In Felipes ersten Saison als Stamm-Innenverteidiger gewann das hochkarätige Corinthians-Team um Renato Augusto, Malcom, Fágner und Vágner Love die brasilianische Meisterschaft.
Ein Vorsprung von 12 Punkten auf Platz zwei und eine historische Serie von 17 Spielen in Folge ohne Niederlage unterstrich die Dominanz von Todo Poderoso.
Dementsprechend zog Felipe nun auch Interesse vom alten Kontinent auf sich. Sein Wechsel für 8.2 Millionen € zum FC Porto wurde dabei im Sommer 2016 auf ganz ungewöhnliche Weise öffentlich.
Um auch in Portugal Auto fahren zu können begab sich Felipe nämlich zu einem sogenannten Poupatempo (kleine Geschäfte der Bundesstaatsverwaltung) um seinen internationalen Führerschein abzuholen.
Die Facebook-Seite der Poupatempos zeigte daraufhin stolz ein Foto des Corinthians-Stars mit den Angestellten und wünschte dem Innenverteidiger viel Glück für sein bevorstehendes Abenteuer in Porto.
https://www.facebook.com/poupatemposp/posts/1040420649374738
Einerseits konnten die Poupatempos so den Wechsel der nichtsahnenden Öffentlichkeit verkünden, und andererseits raffiniert für die Ausstellung des internationalen Führerscheins werben.
Der Start im Norden Portugal verlief allerdings etwas durchwachsen. So unterlief Felipe gleich in seinem zweiten Pflichtspiel für die Dragões ein Eigentor in der CL-Qualifikation gegen die AS Rom.
Doch einmal mehr bewies er seinen Stehaufmännchen-Charakter und traf im siegreichen Rückspiel. In seiner Premierensaison in Europa setzte er sich auf Anhieb als Stammspieler neben Iván Marcano durch.
Ruhm & Ehre am Douro
Im folgenden Jahr stürmte Porto – getragen von einer brillanten Defensive um Felipe, Alex Telles, Ricardo Pereira und eines brandgefährlichen Sturms um Moussa Marega & Vincent Aboubakar – zur Meisterschaft.
Mit sieben Punkten Vorsprung verwies man den Erzrivalen Benfica klar auf Platz zwei und verhinderte die Pentacampeão, die so befürchtete 5. Meisterschaft Benficas in Serie.
Nicht zuletzt weil die Azuis e brancos nur 18 Gegentore kassierten, wurde Felipe ins Team des Jahres berufen.
Bei den Fans des Erzrivalen aus Lissabon wurde Felipe hingegen spöttisch als Vale Tudo betitelt. Dieser Spitzname verweist auf den brasilianischen Vollkontakt-Kampfsport, dessen Name so viel wie „alles gilt“ bedeutet. Damit sollte auf angebliche Disziplinlosigkeit, Aggressivität und schlechtes Timing des Brasilianers bei Grätschen angespielt werden.
Portos Anhänger drehten die Bezeichnung jedoch um und nutzten sie, um Felipes überdurchschnittliche Athletik und Beweglichkeit hervorzuheben.
Tatsächlich ist der Brasilianer ein begnadeter Kopfballspieler, der fast 70% seiner Luftduelle gewinnt. Seine Tore, die meisten davon Kopfballtore, zelebriert er zudem gerne mit spektakulären Saltos.
„In der Luft bin ich sehr aggressiv. Ich glaube, das habe ich durch den Basketball bekommen. Ungefähr vier Jahre lang habe ich auf Amateurniveau gespielt, habe viel am Springen und an der Koordination gearbeitet und es dann auf den Fußball übertragen. Es hat mir geholfen, einen Unterschied zu machen.“
Felicidades nesta nova etapa Felipe 💪
Para sempre um de nós 💙#FCPorto pic.twitter.com/iNrm27NKlr— FC Porto (@FCPorto) May 28, 2019
An den Ufern des Douro war Felipe einer der Co-Kapitäne, der in seinen drei Jahren in Porto kein einziges Spiel verletzungsbedingt verpasste.
In seinem letzten Jahr in der Hauptstadt des Portweins bildete er mit Telles, Pepe und Éder Militão eine beeindruckende Viererkette, die Porto zu einer starken Vize-Meisterschaft und ins CL-Viertelfinale verhalf.
Folgerichtig wurde er 2018 mit seinem ersten und bisher einzigen Länderspiel für die Seleção belohnt. Es war ausgerechnet sein ehemaliger Förderer Tite, der ihm zum Debüt gegen El Salvador verhalf.
Felipe war inzwischen zu einem der meist begehrten Verteidiger Europas geworden. Selbst die Galaktischen aus Madrid bekundeten zwischenzeitlich starkes Interesse, ließen sich aber von der Ausstiegsklausel in Höhe von 80 Millionen € abschrecken.
Einer von Simeones Kettenhunden
Letztendlich waren es Reals Stadtrivalen – die Matratzenmacher von Atlético – die Felipe für 20 Millionen € in die spanische Kapitale locken konnten. Sein Alter von 30 Jahren und der 2021 in Porto auslaufende Vertrag hatten den Preis ordentlich gedrückt.
Dennoch war Felipe zum Zeitpunkt seines Transfers der kostspieligste Verteidiger in der Geschichte der Rojiblancos, ehe er von Kieran Trippier abgelöst wurde (kam für 22 Millionen €).
Anfangs musste der Südamerikaner jedoch Sitzfleisch beweisen und die Reservebank drücken. An das tiefer verteidigende Spielsystem musste er sich erst noch gewöhnen. In den ersten 10 Saisonspielen kam er daher nur auf 271 Minuten Einsatzzeit.
Doch seitdem hat er sich als Stammspieler behauptet, der das Vertrauen von Coach Diego Simeone genießt und ein Schlüsselspieler der zweitbesten Defensive Spaniens ist.
Insbesondere hochprozentig gewonnene Luftduelle (75. Perzentil unter Innenverteidigern in Europas Top-5 Ligen), geklärte Bälle (78. Perzentil) und eine gute Tackle/Dribbled Past-Rate (73. Perzentil) zeichnen ihn aus.
Es wird allerdings interessant zu beobachten sein, wie sich die Innenverteidiger-Hierarchie gestalten wird, wenn alle vier zentralen Verteidiger fit sind. Doch auch diese Herausforderung dürfte der ehemalige Pilz-Lieferant zu meistern wissen.
„Rise to the occasion“, sich einer Situation gewachsen zeigen – kaum eine Redewendung bringt die bewegte Karriere des Felipe Augusto besser auf den Punkt.
Bestes Sinnbild dafür sind die zwei siegreichen und fast schon legendären Schlachten mit Jürgen Klopps FC Liverpool im Frühjahr 2020. Unser Protagonist bestritt beide Partien von der ersten Sekunde bis zum Schlusspfiff.
Insbesondere im entscheidenden Rückspiel an der Anfield Road erwies er sich in intensiven 120 Minuten als einer der besten Akteure seines Teams. 4/5 von erfolgreiche Tackles, 3 Interceptions und 2 geblockte Schüsse sprechen für sich.
Auch das wohl forderndste Spiel seiner Karriere meisterte Felipe, wie sollte es auch anders sein, mit Bravour.
Knapp ein Jahrzehnt nachdem er seine Ochsentour durch das brasilianische Ligasystem angetreten hatte und erst fünf Jahre nachdem er sich in der ersten Liga Brasiliens durchgesetzt hatte, hatte er entscheidenden Anteil daran, den amtierenden Champions League Sieger im Hexenkessel von Liverpool auszuschalten.
Es dürfte sich also für die Zukunft lohnen, Felipes Namen in Erinnerung zu behalten.