Fußball in Japan – Vom kruden Kick zum Profisport

Man mag es nicht glauben, aber Japans Fußballkultur gehört zu einer der ältesten der Welt. Bereits im 7. Jahrhundert wurde im kulturellen Austausch mit China das traditionelle – in Japan kemari genannte – Spiel mit dem Ball eingeführt.

Es fehlten noch die im Verbands-Fußball bekannten Regeln, die den modernen Fußball definieren, aber kemari ist auch noch heute ein nicht-kompetetives Spiel das während buddhistischen Festivals mit einem mit Körnern gefüllten Hirschleder-Ball gespielt wird. Die Regeln bei kemari entsprechen dem, was im deutschen Sprachgebrauch gerne als „Ball hochhalten“ definiert wird.

 

Hokori

Es ist Donnerstag, der 25. Januar 2018. Wie im Januar üblich, ist es bereits früh dunkel, aber nicht besonders kalt an diesem Tag. Wir nehmen aus Bonn kommend die A565 in Richtung Köln und erreichen die A3 noch vor dem werktäglichen Verkehrskollaps.

Unser Ziel für diesen Abend ist die Universität Duisburg-Essen, genauer gesagt das Gerhard Mercator-Haus am Uni-Campus Duisburg. Das Institut für Ostasienwissenschaften, kurz „In-East“ genannt, lädt an diesem Abend zu einem Podiumsgespräch ein. Gast: Pierre Littbarski.

Das Podiumsgespräch mit dem Weltmeister von 1990 ist die Auftaktveranstaltung für eine Fotoausstellung die in den kommenden Wochen im In-East zu sehen sein wird. Der Titel: „Hokori. Fußball. Fan. Kultur. in Japan“. Benjamin Rabe ist 28 Jahre alt und Doktorand am In-East.

Neben seinem aktiven Fan-Dasein beim VfL Wolfsburg hat es ihn im Rahmen seines Studiums mehrmals für längere Aufenthalte nach Japan verschlagen.

Über Martin Lieser, Doktorand der Universitäten Bonn und Wien, der zuvor die Fangruppe Taiyou Komuten des japanischen Erstligisten Kashiwa Reysol aus anthropologischer Sicht analysierte, erhielt Rabe ersten Kontakt zu den Fans des Vereins und wurde im Jahr 2016 selbst aktives Mitglied.

Während seines letzten Aufenthalts besuchte Rabe über 40 Spiele verschiedener Teams und dokumentierte seine Eindrücke und Erfahrungen mit japanischer Fankultur auf Videos und Fotos.

Wir erreichen das Mercator-Haus pünktlich. Beginn der Veranstaltung ist laut Ankündigung 19 Uhr und der Raum füllt sich bereits stetig mit Leuten. Überall wurden Fan-Utensilien japansicher Vereine verteilt; Trikots, Schals und signierte Fußballschuhe von Masato Kudo, Rekordtorschütze bei Kashiwa Reysol, bilden die Kulisse.

Uns wurde gesagt, dass zwischen 20 und 100 Personen erwartet werden, am Ende sind es etwa 60 Personen, Japaner und Deutsche aller Altersgruppen. Rabe wird zunächst noch von Reportern der lokalen Presse interviewt, während sich Littbarski etwas verdeckt im vorderen Bereich des Gebäudes aufhält.

Littbarski war zunächst nicht als Gast vorgesehen. Rabe hatte den ehemaligen Trainer Kyoto Sangas und Co-Trainer unter Guido Buchwald bei den Urawa Red Diamonds, Gert Engels, um eine Teilnahme an der Veranstaltung gebeten. Engels hatte zwar zugesagt, erhielt jedoch wenige Wochen vor diesem Abend ein Jobangebot aus Kobe, wo er künftig als Co-Trainer arbeiten wird.

Rabe rief in Wolfsburg beim VfL an und erhielt tatsächlich Kontakt zu Littbarski. Der Chef-Scout der Wölfe musste nicht überzeugt werden und erklärte sich ohne Umschweife bereit als Gesprächspartner an der Veranstaltung teilzunehmen.

Der gebürtige Berliner ist wohl der prädestinierteste Gast für diesen Abend, denn Littbarski war der erste deutsche Spieler, der Anfang der 1990er Jahre in der neu gegründeten J. League spielte.

Japan entwickelte sich im Mittelalter über mehrere Jahrhunderte in einer selbst gewählten Isolation. Bis auf Händler der direkten Nachbarn und den Niederländern, die sich anders als Portugiesen und Spanier als reine Geschäftsleute verstanden, war es keinem Ausländer gestattet japanischen Boden zu betreten.

Erst 1854, im Angesicht militärischer Unterlegenheit und dem Wissen um das Schicksal des vom Westen kolonialisierten Chinas, öffnete sich Japan wieder äußerer Einflüssen mit dem Ziel von den Kolonialmächten zu lernen.

Die britische Marine erklärte sich bereit in Tsukiji, zentral in Tokio gelegen, japanische Marinekadetten auszubilden. Die zweite Ausbildungsmission begann 1873 unter der Leitung des britischen Lieutenant-Commander Archibald Lucius Douglas.

Douglas persönlich wird zugeschrieben, neben der militärischen Ausbildung, auch den britischen Fußballsport an die Kadetten vermittelt zu haben.



Der älteste registrierte Verein ist der noch heute in der sechstklassigen Regionalliga aktive Tokyo Shukyu-dan von 1917, aber ein Vereinswesen wie in Deutschland gab es in Japan nicht.

In der Anfangszeit wurden primär regionale Turniere zwischen Universitätsmannschaften ausgespielt und einen Fußballverband gab es erst 1921. Auch der Kaiserpokal, der seit 1921 ausgetragen wird, war in den Anfangsjahren noch ein zweitägiges Turnier mit einer geringen Anzahl an Teams. 2018 werden in diesem traditionsreichen Wettbewerb insgesamt 88 Mannschaften teilnehmen.

Der klassische Vereinsfußball hat seinen Ursprung hingegen in der japanischen Unternehmenskultur. In der Nachkriegszeit und dem wirtschaftlichen Aufstieg Japans, boten japanische Unternehmen ihren Mitarbeitern diverse sportliche Aktivitäten zur Gesunderhaltung an.

Zunächst wurde 1948 die All Japan Works Football Championship (AJWFC) für Werksteams gegründet, 1955 bündelte die All Japan Inter-City Football Championship (AJICFC) eine Art Städteliga, in der alle Teams einer Stadt teilnehmen durften.

Die erste nationale Ligastruktur wurde vom japanischen Fußballverband (JFA) 1965 gegründet. Die Japan Soccer League (JSL) ersetzte beide Turniere und legte ihren Fokus erneut auf die Werksmannschaften.

So bestand das Teilnehmerfeld der JSL mitunter aus Mannschaften japanischer Großkonzerne wie Mazda, Mitsubishi, Nissan und Yamaha. Auch im Kaiserpokal setzten sich diese immer häufiger gegen die Universitätsmannschaften durch. Nicht zuletzt profitierte die japanische Nationalmannschaft von der Strukturierung des Spielbetriebs.


Fußball China
Vor einiger Zeit haben wir auch über den chinesischen Fußball geschrieben. Hier gehts zum Text!

Die Stars der JSL bildeten das Rückgrat der japanischen Auswahl (auch daihyo genannt) bei den olympischen Spielen 1968 in Mexiko. Die Auswahl, in der Dettmar Cramer als Berater tätig war, konnte am Ende sogar die bronzene Medaille gewinnen.

Aufgrund seiner Erfolge als Trainer der daihyo gilt Cramer noch heute als ein Begründer des modernen Fußballs in Japan und wurde im Jahr 2005 in die nationale „Football Hall of Fame“ aufgenommen.

Mit den Erfolgen erfasste Japan die Fußballeuphorie und die Liga wurde erstmals für ausländische Spieler geöffnet. Während die ausländischen Spieler, meist Brasilianer, einzig für das Fußballspielen nach Japan kamen, mussten ihre japanischen Mitspieler tagsüber ihrem eigentlichen Beruf nachgehen. Eine Ausnahme in dieser Zeit war Yasuhiko Okudera, der 1977 mit 25 Jahren als erster japanischer Profispieler ins Ausland ging.

Nach drei Spielzeiten beim 1.FC Köln, wechselte Okudera für eine Saison zur Hertha nach Berlin und beendete sein Abenteuer Bundesliga nach weiteren fünf Jahren bei Werder Bremen im Jahr 1986.

Im gleichen Jahr unterschrieb der älteste noch aktive Profi der Welt, Kazuyoshi Miura, seinen ersten Vertrag beim brasilianischen Erstligisten FC Santos.

Miura brach einige Jahre zuvor mit nur 15 Jahren und dem Traum Profifußballer zu werden nach Brasilien auf. „King Kazus“ Geschichte war nicht nur eine romantische Vorlage für den beliebten Manga/Anime „Captain Tsubasa“ (in Deutschland als „Die tollen Fußballstars“ bekannt), sondern zeigte auch beispielhaft, wie tief Fußball in dieser Zeit Japaner begeistern konnte.



Nach einigen einleitenden Worten von Prof. Axel Klein, dem Direktor des In-East, werden Benjamin Rabe und Pierre Littbarski auf die Bühne gebeten. Littbarski lässt es sich nicht nehmen noch einige japanische Süßigkeiten zu verteilen, bevor das Gespräch richtig in Fahrt kommt. Die Aktion sorgt für einige Lacher und kommt beim Publikum sehr gut an.

 

Littbarski und der Weg nach Fernost

Zunächst skizzieren Littbarski und Prof. Klein, der beim Abschiedsspiel im Müngersdorfer Stadion noch selbst dabei war, den Weg des Weltmeisters in den fernen Osten.

Littbarski spielte beim 1.FC Köln, merkte aber, dass er mit den jüngeren Spielern sportlich nur noch bedingt mithalten konnte. So räumte er an diesem Abend ein, ein wenig die Freude am Fußball verloren zu haben. Neuer Schwung kam in Littbarskis Karriereplanung, als Yasuhiko Okudera ihn fragte, ob er sich vorstellen könnte in Japan zu spielen.

Dort beschloss die JFA im Jahr 1992 die Gründung der ersten japanischen Profiliga, und die designierten Teams suchten aktiv nach ausländischen Spielern, um den Mannschaften neben einer spielerischen Aufwertung auch eine Team-Identität geben zu können.

Schaut man sich die Kader von JEF United Chiba und den Urawa Red Diamonds in den Gründungsjahren an, so erkennt man leicht, dass deutsche Spieler Teil dieser Team-Identitäten werden sollten.

Das erfolgreichste Team der 1980/90er Jahre war der Yomiuri FC, die Fußballmannschaft eines japanischen Verlagshauses, das im Breitensport Baseball mit den Yomiuri Giants bereits eine etablierte Größe war.

Auch Kazuyoshi Miura kehrte 1990 nach Japan zurück und spielte eine wichtige Rolle beim selbst ernannten FC Nippon. Die Mannschaft musste, um an der J. League teilnehmen zu dürfen, aus dem Unternehmen ausgegliedert und neu gegründet werden.

Da das Team in Kawasaki, einer Stadt südlich von Tokio, beheimatet war und in grünen Trikots spielte, nannte man den Verein einfach Verdy Kawasaki.

Auch andere Mannschaften erhielten im Rahmen der Ausgliederung europäisch anmutende Namen: Aus dem Mazda SC wurde Sanfrecce Hiroshima, Mitsubishi Motors FC wurde zu den Urawa Red Diamonds und Nissan Motors FC zu den Yokohama Marinos.

Nur das extra für die J. League gegründete All-Star-Team der Präfektur Shizuoka, Shimizu S-Pulse, entstammt keinem Unternehmen. Mit dem Team wollte die Liga der erfolgreichen Vergangenheit der Präfektur Tribut zollen, deren Repräsentanten bei den nationalen Jugendturnieren häufig gut abschnitten (Nankatsu aus Captain Tsubasa ist auch eine fiktive Stadt in der Präfektur Shizuoka).

Die Liga startete mit 10 Mannschaften und wurde in den folgenden Jahren stetig auf 18 Teams aufgestockt. Die J. League entschloss sich mit Gründung der Liga für eine Austragung im Jahreszyklus, da Teams aus Nordjapan mangels überdachter Trainingszentren einen erheblichen Wettbewerbsnachteil im harten japanischen Winter hätten.

Da die JSL zuvor noch im europäischen Zyklus ausgespielt wurde, wurde zur Überbrückung im Herbst 1992 der erste Ligapokal unter dem J. League Branding ausgespielt.

Erst im Mai 1993 startete die Premierensaison unter großem Medienrummel noch an landesweiten Austragungsorten und etlichen Spielen im National Stadium Tokio, teilweise mit über 50.000 Zuschauern.

Anders als in Europa wurde keine zusammenhängende Saison ausgespielt, sondern zwei Runden mit Hin- und Rückspielen. Statt Punkten wurden nur die Anzahl der Siege gewertet, wobei die Gesamtsieger der beiden Runden in zwei Finals im National Stadium aufeinander trafen.



Pierre Littbarskis Weg führte im Mai 1993 in die Stadt Ichihara zu JEF United Chiba. Sein Engagement lief zunächst sehr erfolgreich, denn nach einer Auftaktniederlage gegen Sanfrecce Hiroshima gewann JEF United die nächsten fünf Spiele unter anderem gegen den Primus aus Kawasaki. Littbarski erinnert sich, dass er in dieser Zeit noch zu verbissen war, um die japanische Fankultur wirklich zu verstehen.

Als auf die Siegesserie drei Niederlagen gegen die Kashima Antlers, Shimizu S-Pulse und die Yokohama Flügels folgten, schämte sich Littbarski für die gezeigte Leistung.

Er zögerte nach dem Spiel sich den Fans zu stellen, wurde durch seine Mitspieler jedoch ermutigt. Was er sah, konnte Littbarski damals kaum glauben, denn die Fans jubelten der Mannschaft und den Spielern trotz der Ergebnisse weiterhin zu. Eine Eigenschaft, die die japanische Fankultur noch heute prägt.

Benjamin Rabe erklärt an diese Anekdote anknüpfend, dass viele japanische Fans in ihrem Handeln niemals ein Minus für die Mannschaft sein möchten. Ziel ist es das eigene Team, egal in welcher Lage, bestmöglich zu unterstützen und – in diesem Gleichnis bleibend – immer ein Plus zu sein.

Daher trinken die aktiven Fans von Kashiwa Reysol vor und während des Spiels keinen Alkohol, um sich voll auf die Unterstützung der Mannschaft konzentrieren zu können und nicht negativ aufzufallen.

Man sah Littbarski in seinen Erzählungen die nostalgische Freude an. Während seiner Zeit bei JEF wurde ihm ein Dolmetscher zur Seite gestellt, dem, trotz seiner guten Übersetzungen im allgemeinen Sprachgebrauch, das fußballerische Fachvokabular fehlte.

So wurde Littbarski im Nachgang eines Spiels nach einem Statement gefragt und gab, wie in Deutschland schon damals üblich, eine recht detaillierte Analyse über den Spielverlauf. Den längeren Monolog komprimierte sein Dolmetscher trotz der umfangreichen Ausführung auf die Phrase:  „Man wird jetzt weiter hart daran arbeiten, das Team zum Erfolg zu führen.“

Japans Fußballfaszination fußt auch heutzutage noch primär auf dem Abschneiden der Nationalmannschaften, den „Samurai Blue“ und der „Nadeshiko“.

Aufgrund der eher unregelmäßigen Spiele war eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Sport nicht unbedingt vonnöten gewesen, doch mit einem breit aufgestellten Ligabetrieb im Jahr 1993, änderte sich dieser Bedarf. Dem Publikum wurden in der Anfangszeit noch viele Highlight-Videos gezeigt, in denen erst einmal die Spielregeln vermittelt wurden.

Japanische Journalisten baten Littbarski im Vorfeld eines Interviews noch um eine Ausfertigung seiner Antworten, das Gespräch selbst hingegen stellte sich eher oberflächlich dar.

Auch für die Unparteiischen mussten Littbarski und andere Profis aus Übersee noch Regelkunde geben. Insbesondere die Vorteilsauslegung der Abseitsregel fand in der Anfangszeit der J. League wenig Anwendung und sorgte auf dem Feld für stetigen Gesprächsstoff.

Benjamin Rabe berichtet im Anschluss über die Aktivitäten im Stadion aus Sicht der Fans von Kashiwa Reysol. Das Vertrauensverhältnis zwischen dem Verein und den Fangruppen ist so groß, dass die Öffentlichkeitsarbeit komplett den Gruppen überlassen wird.

Bei Reysol sind es die Fans, die die Spiele bewerben und neue Zuschauer anlocken. Sie kreieren Fangesänge, Flyer und Magazine und verteilen diese vor jedem Spiel.

Nicht zuletzt durften die aktiven Fangruppen auch das Innere des Stadions nach ihren eigenen Wünschen renovieren, woraufhin jede graue Wand – einschließlich des Gästeblocks – in der gelben Vereinsfarbe Reysols gestrichen wurde.

Insbesondere hob Rabe den in Japan überregional bekannten Fan Miyacho („Chefchen“) hervor, der durch verschiedene kreative Aktionen ein positives Bild von Reysol verbreitet. Er steht, wie die gesamte Führungsriege der aktiven Fangruppen, im engen Kontakt mit den Spielern und ermutigt auch die jüngsten Fans ihre Idole anzusprechen.



Grinsend erinnert sich Littbarski an das Miteinander mit den Fans. Zu seiner Zeit war es nicht unüblich nach den Spielen noch mit den Fans durch Kneipen zu ziehen und sich über das Spiel und die Liga auszutauschen.

Trotz seines Status als Weltmeisters war es in Japan noch möglich mit den Fans zu interagieren. Gegnerische Fans, die ihn beim Eckstoß zur Verunsicherung ausbuhten, waren aus dem Häuschen, als er ihnen grinsend den Daumen entgegenstreckte. Für die eigenen Fans kreierten die Spieler bei JEF eine Siegestradition, die noch Jahre nach Littbarskis Weggang gepflegt wurde.

Dass es sich bei aller familiären Nähe dennoch um ein Profigeschäft handelt, zeigt das Schicksal des Gründungsmitglieds Yokohama Flügels. Das frühere Werksteam der japanischen Fluggesellschaft All Nippon Airways (ANA) konnte seit Ligagründung, abgesehen von zwei Pokalsiegen und einem Sieg im asiatischen Pokal, wenige Erfolge aufweisen. Mit den Yokohama Marinos gab es ebenfalls einen Konkurrenten in der eigenen Stadt, mehr noch, im eigenen Stadion.

Als 1998 ein Hauptsponsor seinen Rückzug aus dem Verein ankündigte, trafen sich die Vorstände von ANA und Nissan, um über eine Fusion beider Vereine zu verhandeln.

Unter dem Namen Yokohama F. Marinos auflaufend (das F soll an die Flügels erinnern) wurde zwar dem wirtschaftlichen Interessen beider Unternehmen Rechnung getragen, doch war die Fusion für die bereits ausgeprägte Fankultur der Teams eine Hiobsbotschaft. Während sich Marinos-Fans mit der neuen Situation irgendwie arrangierten konnten, wollten die meisten Fans der Flügels nicht dem ehemaligen Rivalen zujubeln.

 

Fankult und Ausblick

Um diesen verloren Fanseelen ein neues Zuhause zu bieten, taten sich Yasuhiko Okudera und Pierre Littbarski zusammen und gründeten 1999 den Yokohama FC. Littbarski hatte seine Karriere als Spieler im Sommer 1997 zwischenzeitlich beendet und übernahm beim YFC seine erste Station als Chef-Trainer.

Finanziell wurde der Verein von den Flügels-Fans getragen, die den Preis für zwei Saisontickets vorstrecken mussten, um das Projekt zu realisieren. Auch die fortwährende Unterstützung der Band „The Alfee“ war gesichert, war sie doch bereits so tief mit den Flügels verwurzelt, dass das komplette Publikum bei Konzerten in mitgebrachte Trikots wechselte, sobald das für den Verein komponierte Lied „Victory“ gespielt wurde.

Nach zwei Jahren in Yokohama und einem Engagement beim Sydney FC fand Littbarski ab 2007 einen Trainerposten bei Avispa Fukuoka und konnte über die Fans und die Stadt nur in den höchsten Tönen berichten.

Aufgrund des ansonsten mäßigen Saisonverlaufs wollte Littbarski sein Standing Nutzen um sich, entgegen der Empfehlung der Vereinsführung, vor der Fankurve für die letzten Ergebnisse zu entschuldigen.

Mit Rückblick bereut Littbarski diese intuitiv getroffene Entscheidung noch heute, denn obwohl Trainerentlassungen in der J. League noch heute eher unüblich sind, wurde Littbarski nach diesem Schuldeingeständnis vom Vorstand entlassen.


 

Seit 2010 ist Littbarski nun in Wolfsburg tätig. Doch zu keinem Zeitpunkt hat er die japanische Liga aus den Augen verloren. In Gesprächen mit Spielerberatern erwähnte er vor einigen Jahren unter anderem einen jungen Spieler namens Shinji Kagawa, der in der zweiten japanischen Liga von sich Reden machte.

Zur Saison 2010/11 wechselte der damals 21-jährige Japaner zu Borussia Dortmund und wurde ohne große Anpassungsschwierigkeit zu einem wichtigen Baustein der späteren Meistermannschaft.

Auch viele andere Spieler der japanischen Welle in die Bundesliga gehen auf seine Beobachtungen zurück. Als Chef-Scout beim VfL Wolfsburg macht er sich noch heute darüber Gedanken, welche japanischen Spieler den Sprung nach Europa schaffen könnten.

Nachdem die japanische Nationalmannschaft während der WM 2010 das Achtelfinale erreichte, verlor der Fußball in Japan ein wenig seinen Glanz.

Einige der besten Talente wechselten, mal mehr, mal weniger erfolgreich, ins Ausland und die Zuschauerzahlen in den Arenen des Landes stagnierten. Der Hype seit der Weltmeisterschaft im eigenen Land 2002 hinterließ zwar große Stadien, doch voll waren diese im Ligabetrieb nur selten.

Um der Negativentwicklung Einhalt zu gebieten, versuchte die J. League mit unterschiedlichen Maßnahmen wieder Interesse zu generieren. Während die Chinese Super League durch Investoren aus der Privatwirtschaft einen extremen Boom erlebte, war das Geld hierfür in Japan einfach nicht vorhanden.

Die Verpflichtung von Diego Forlan durch Cerezo Osaka konnte gerüchteweise nur durch eine Subvention der Liga erfolgen, die sich hiervon einen Hype versprach; ironischerweise konnte der Altstar den Qualitätsverlust durch transferierte Talente nicht kompensieren und Cerezo stieg 2014 als Vorletzter der Tabelle ab.

Für die Saison 2015 versuchte die Liga durch Wiedereinführung des Hin- und Rückrundensystems der Anfangsjahre mehr Spannung in die Meisterschaft zu bringen. Doch anders als vor 20 Jahren galt es nun in der Liga drei von vier Champions League-Plätzen zu besetzen, was ein kompliziertes Playoff-System zur Folge hatte.

Nicht nur versagte dieses System ein gesteigertes Interesse beim breiten Publikum,  die treuen Fans der Liga liefen Sturm gegen diesen Meisterschaftsmodus und konnten sich durchsetzen.

Bezeichnenderweise gewann in der Saison 2016 nicht das dominierende Team des Jahres, die Urawa Red Diamonds, sondern der Hinrundensieger und Rekordmeister aus Kashima, der in der zweiten Saisonhälfte kräfteschonend spielte und mit 15 Punkten Abstand als Tabellendritter das Playoff für sich entschied.

Zur Saison 2017 kehrte die Liga zu einer Saison mit 34 regulären Spieltagen zurück und konnte sich zusätzlich über einen Geldsegen freuen. Im gleichen Jahr trat ein Deal mit der Perform Group für die Übertragungsrechte der J. League in Kraft.

Über die nächsten 10 Jahre erhält die Liga umgerechnet etwa 1,5 Milliarden Euro vom britischen Broadcaster, das über Start- und Preisgelder an die Vereine ausgeschüttet werden kann. Es ist zu erwarten, dass dieses Geld nicht nur in den Kader, sondern auch in den Ausbau der eigenen Infrastruktur investiert wird.



Pierre Littbarski und Benjamin Rabe hätten sicherlich noch Material, um zwei weitere Stunden über den japanischen Fußball zu reden, doch die Auftakt-Veranstaltung für Rabes Fotoausstellung findet nach etwas mehr als einer Stunde ihr jähes Ende.

Der kurzweilige Abend mit dem Weltmeister bot einen unterhaltsamen und informativen Einblick in den japanischen Fußball und seine besondere Fankultur.

Die Zuschauer sind noch eingeladen die Räumlichkeiten des In-East zu besuchen und sich Rabes Ausstellung anzuschauen. Auch wir erwischen Pierre Littbarski noch auf einen kleinen Plausch, bevor er durch Prof.

Axel Klein wieder zum Duisburger Bahnhof gefahren wird. Littbarskis aktive Zeit in Japan ist vorbei, doch mit Lukas Podolski hat der deutsche Fußball ein neues Aushängeschild im Land der aufgehenden Sonne. Podolski spielt seit Sommer 2017 beim japanischen Erstligisten Vissel Kobe und kann in 20 Jahren vielleicht ähnlich spannend über seine Zeit im fernen Osten berichten.

Die Ausstellung „Hokori – Fußball. Fan. Kultur. in Japan“ ist noch bis zum 31. März 2018 in der 7. Etage des LE-Gebäude der Universität Duisburg-Essen, Forsthausweg 2, 47057 Duisburg werktags von 9 bis 17 Uhr für die Öffentlichkeit zugänglich.

Die J. League Saison 2018 beginnt am Freitag, dem 22. Februar 2018 und wird bei DAZN wöchentlich mit deutschem Kommentar übertragen.

 

Cavanis Friseur bedankt sich recht herzlich bei Gastautor Tobias (@ConDrei), welcher seit 2014 Datenpfleger für den japanischen Fußball bei transfermarkt.de ist. Seit Sommer 2017 betreiben er und seine Kollegen die Kanäle @jleagueDE in den Sozialen Netzen.

Cavanis Friseur
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