Fußball ist Unterhaltung. Wenn ich am Wochenende durch verschiedene Fußballspiele aus allen Ligen dieser Welt zappe, möchte ich unterhalten werden. Ich möchte ein Spiel sehen, was ich mir gerne anschaue und mich mitreißt.
Dabei gibt es Spiele, die schaue ich vor allem aufgrund einzelner Spieler: Wenn Lionel Messi spielt, dann gucke ich einfach gerne zu und bewundere. Der Taktik-Liebhaber in mir kann aber genauso gut von einem strukturierten Pressing oder interessantem Ballbesitzspiel unterhalten werden.
Die Autoren von Cavanis Friseur beschreiten auf der Suche nach “gutem Fußball” gerne unkonventionelle Wege und schauen dafür Spiele auf der ganzen Welt. Immer wieder finden wir dabei Teams, die uns mit ihrer Spielweise begeistern, in Deutschland jedoch nicht so viel Aufmerksamkeit erhalten.
Auch in dieser Saison gibt es einige Mannschaften, die mit ihren interessanten Ideen und spannenden Spielern in Deutschland unter dem Radar fliegen.
Unsere Teams to watch 2021/22:
KV Oostende – Pressing mit menschgewordenen Türmen
Shakhtar Donetsk – Ballbesitz-Wahn?
Liverpool Montevideo – Offensivpower mit jungen Talenten
SSC Napoli – Scudetto im Jahr 1 n. D.?
Olympique Marseille – Ein Spiel ohne Außenverteidiger
LDU Quito – Lieber 4:3 als 1:0
KV Oostende: RB-Pressing an der belgischen Küste
– von Henri Hyna
Die belgische Jupiler Pro League erfährt in Deutschland weitestgehend keine Aufmerksamkeit. Oder weißt du, welche Mannschaften 20/21 die ersten fünf Plätze in der Tabelle erreicht haben? Nein? Nicht schlimm.
Es waren der FC Brügge, Royal Antwerpen, RSC Anderlecht, KRC Genk und… KV Oostende. Die Mannschaft von der belgischen Küste ging letzte Saison mit dem geringsten Marktwert der gesamten Liga (11,6 Millionen Euro) als krasser Außenseiter an den Start – und übertraf alle Erwartungen.
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Mit ihrem überfallartigen Pressing machte das Team vom deutschen Coach Alexander Blessin den Gegnern das Leben schwer. Dieser kommt – wie sollte es anders sein – aus der RB-Schule und trainiert mit dem KV Oostende sein erstes Team im Herrenbereich.
Im Sommer verließen dann mit Jack Hendry, Jelle Bataille, Andrew Hjulsager, Arthur Theate und Fashion Sakala gleich mehrere Leistungsträger den Verein und gingen vereinzelt zu direkten, finanzstärkeren Konkurrenten. Trotzdem überrascht der KV Oostende auch in dieser Saison – das Erfolgsrezept ist dabei das gleiche geblieben:
Warum ist der KV Oostende sehenswert?
Was vor einigen Jahren noch das 4-4-2 Pressing war, ist seit (spätestens) letzter Saison das 5-3-2 Pressing. In der Bundesliga längst etabliert, stellt der KV Oostende mit seinem hohen Pressing die Gegner weiterhin vor große Probleme.
Die Truppe von Blessin agiert aus einer 5-3-2 Grundformation. Der Fokus liegt darauf, das Zentrum zu verschließen. Dafür agieren die Stürmer recht eng, die zentralen Mittelfeldspieler nehmen ballnah Mannorientierungen auf und der ballnahe Wingback schiebt weit hoch.
Der Sechser Maxime D´Arpino agiert zwischen oder hinter dem Mittelfeld als Sammler; er versucht also, ungenaue Pässe abzufangen und das Fortschreiten des gegnerischen Angriffs zu verhindern, wenn das Pressing mal überspielt wurde.
Dabei dient nicht jedes Pressing Oostendes dem Zweck, den Ball zu gewinnen. Stattdessen versuchen sie, den Gegner nach hinten oder zur Seite zu lenken – treten dann Unsauberkeiten auf, macht das Team kollektiv Druck und verengt den Raum um den Ballführenden. Beeindruckend ist, wie gut die Spieler dabei individuell vorgehen.
Wird doch mal ein Gegner im Zentrum angespielt, wird dieser sofort so angelaufen, dass er nicht aufdrehen kann – und schließlich nach hinten passen muss. Bei jedem Pressingversuch laufen die Spieler so an, dass sie das Zentrum über ihren Deckungsschatten abdecken. Das klingt nicht besonders, ist in dieser Konstanz aber äußerst schwer zu erreichen.
Hinten drin stehen zusätzlich mit Anton Tanghe, Zech Medley und dem von RB Leipzig ausgeliehenen Frederik Jäkel Mensch gewordene Türme.
Was macht der KV Oostende sonst so?
KV Oostende zeichnet sich vor allem über ihr Spiel gegen den Ball aus – mit nur 41 Gegentoren kassierten sie in der letzten Saison die drittwenigsten Tore aller Teams in der Jupiler Pro League. Mit 49 erzielten Toren rangierten sie jedoch nur im unteren Mittelfeld und zeigen auch in dieser Saison keine großen Verbesserungen.
Mit Ball agiert der KV Oostende äußerst vertikal. Ein Raum wird überladen, in diesen Raum wird ein langer Ball gespielt, es wird kollektiv nachgeschoben und der Ball soll anschließend in der hohen Zone gesichert werden. Dabei zeigen sich die Spieler in ihren Aktionen ordentlich abgestimmt.
Dreht ein Spieler auf, weiß der hohe Spieler, dass er sofort den Tiefensprint machen kann. Und andersrum genauso: Der Mittelfeldspieler – z.B. Scorerpunkt-Maschine und U21 Nationalspieler Nick Bätzner – dreht auf und weiß, dass in seinem Blickfeld sofort ein Spieler tief gehen wird.
Die Abläufe sind dabei simpel, funktionieren aber auf ordentlichem Niveau. Problematisch ist hier vor allem, dass die Offensivspieler individuell nicht gut genug sind, um konstant Durchbrüche zu kreieren oder aus Ballgewinnen Kapital zu schlagen. Auch dieses Jahr hat man einen der geringsten Gesamtmarktwerte der Liga – Top-Torjäger Fashion Sakala und Top-Vorlagengeber Andrew Hjulsager verließen beide den Verein im Sommer.
Daher geht auch in dieser Saison viel über (gute) Standardsituationen. Mit sieben Toren haben sie in dieser Saison immerhin die Hälfte aller ihrer Tore so erzielt.
Ausblick auf die weitere Saison
Nach zehn Spieltagen steht der KV Oostende auf dem elften Tabellenplatz. Die insgesamt erzielten 14 Tore sind nicht viel, liegen aber sogar auf dem Schnitt der letzten Saison. Probleme bereitet die Defensive: Von 1,2 Gegentoren in der letzten Saison zu 1,8 Gegentoren stellt eine deutliche (und keine gute) Steigerung dar.
Besonders, wenn das weiterhin gut funktionierende Pressing mal überspielt wurde, fangen die Spieler aus der Hafenstadt an zu schwimmen. Die Restverteidigung von Medley, Tanghe und Jäkel kann sehr wild sein – bestes Beispiel ist wohl der 4:3 Sieg beim KRC Genk.
Trotzdem oder auch genau das machen den KV Oostende so sehenswert: Die Spiele sind intensiv und immer für Überraschungen gut. So konnte das Team von Alexander Blessin auch in dieser Saison bereits einige Top-Teams ärgern.
Gegen den KRC Genk gewann man wie erwähnt 4:3, gegen KAA Gent gewannen sie 1:0 und RSC Anderlecht trotzten sie ein 2:2 ab. Entwickelt sich die Verteidigung um Frederik Jäkel in der Restverteidigung weiter und kann das Team damit stabilisieren, könnte auch in dieser Saison ein einstelliger Tabellenplatz möglich sein.
Trotz mehrerer Abgänge wichtiger Spieler, trotz einem der geringsten Gesamtmarktwerte der Liga bleibt das Team um Nick Bätzner und Alfons Amade unangenehm zu bespielen. Der KV Oostende geht in kaum eine Partie als Favorit – allerdings würde ich auch nie gegen sie wetten.
Shakhtar Donetsk – Wo Ballbesitz so richtig Spaß macht
– von Henri Hyna
Im Oktober 2016 wurde die erste deutsche Taktikanalyse über Roberto de Zerbi veröffentlicht. Damals noch als Trainer in der dritten italienischen Liga aktiv, hatte der italienische Trainer mit mir plötzlich einen Fan mehr. Nun, seit dem Oktober 2016 ist einiges passiert – der inzwischen 42-jährige trainiert keinen italienischen Drittligisten mehr, sondern hat sich über Stationen in Palermo, Benevento und Sassuolo bis in die Champions League hochgearbeitet.
Seit Ende Mai diesen Jahres trainiert er Shakhtar Donetsk, die mit Dynamo Kiew in Europa die Flagge des ukrainischen Vereinsfußballs hochhalten. Die Gründung der ukrainischen Premier Liga war 1991 – nur im ersten Jahr gewann ein anderer Verein die Meisterschaft als die beiden ukrainischen Schwergewichte.
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In der letzten Saison gewann nach vier Jahren Abstinenz mal wieder Dynamo Kiew wieder die Meisterschaft. Außerdem musste Shakhtar in der Champions League trotz zweier Siege gegen Real Madrid bereits nach der Gruppenphase die Segel streichen – gegen Borussia Mönchengladbach hatte man jeweils 0:6 und 4:0 verloren.
Mit de Zerbi soll in dieser Saison ein neuer Angriff auf den Meistertitel gestartet werden. Durch das 0:0 gegen Dynamo Kiew liegt Donetsk nach zehn Spieltagen drei Punkte hinter dem Rekordmeister. Auch wenn in der Liga und in der Champions League noch nicht alles ideal verläuft, lässt sich bereits der typische de Zerbi Fußball sehen.
Warum ist Shakhtar Donetsk sehenswert?
Dieser besteht aus Ballbesitz, Ballbesitz und Ballbesitz. Dafür setzt der Trainer auf die selben Stilmittel wie in Sassuolo: Aus einer Art 4-2-3-1 Grundformation bauen die Ukrainer das Spiel auf. Im Spielaufbau wird dann auf verschiedene Bewegungen zurückgegriffen, um bespielbare Strukturen zu kreieren.
🟠⚫️SHAKHTAR 0-0 INTER🔵⚫️
Un De Zerbi-Inzaghi siempre es buena excusa para hablar un poco de fútbol con @brunoalemany. El duelo italiano de las pizarras en el formato audio de @playfutbol y también en 6⃣ capturitas de pantalla
⬇️⬇️⬇️https://t.co/aYFqMZQANP pic.twitter.com/Oiz7JSPGP5— Marco Rodrigo Azkue (@MRAzkue) September 30, 2021
Die Außenverteidiger kleben nicht wie bei vielen anderen Teams an der Seitenlinie, sondern schieben eng ein. Ihre Grundposition ist in Ballbesitz nur wenige Meter höher und breiter als die Position der Innenverteidiger. Der andere Außenverteidiger schiebt dann leicht hoch, um die Bewegung auszubalancieren.
Allerdings kippt auch immer wieder einer der Sechser in die erste Aufbaureihe ab. Das geschieht sehr flexibel – mal kippt er nach halblinks, mal zentral oder nach halbrechts ab. Auffangen tun das die anderen Spieler, indem ein anderer Akteur aus der Kette hochschiebt. Entweder rückt also ein Außenverteidiger ins Mittelfeld vor oder es schiebt gar einer der Innenverteidiger hoch.
Plötzlich bauen dann ein Außenverteidiger, ein defensiver Mittelfeldspieler und ein Innenverteidiger in der ersten Aufbaureihe das Spiel auf – ganz schön verrückt. Und warum das Ganze?
Durch die engen Positionen ihrer Spieler im ersten und zweiten Drittel stellen die Ukrainer im Zentrum eine klare Überzahl her. Es gibt viele, einfache Passwege und nach Ballverlust muss das Spielfeld gar nicht mehr besonders eng gemacht werden, weil es das eh schon ist.
Als Gegner muss ich mich demnach im Zentrum extrem kompakt staffeln, um Zugriff auf den Ball erzeugen zu können. Dadurch werden jedoch die Flügel geöffnet, welche Shakhtar dann sofort bespielt. Dort suchen dann Top-Neuzugang Pedrinho, Solomon oder Tetê sofort das Dribbling.
Die Flügelspieler, welche als einzige Spieler ihre breite Position konstant halten, agieren in ihren Aktionen fast ausschließlich invers. Unterstützt werden sie durch fallende Bewegungen der zentralen Offensivspieler, welche aus ihren hohen Positionen immer wieder entgegenkommen und sich den Ball abholen.
Dabei zeigen sich alle Spieler herausragend darin, Anschlussaktionen in die Halbräume oder ins Zentrum zu finden. Nach eigenem Pass bewegen sich die Spieler sofort, um eine weitere mögliche Aktion vorzubereiten bzw. herstellen. Und wie sieht es gegen den Ball aus?
Was macht Shakhtar Donetsk sonst so?
In Sassuolo war de Zerbi dafür bekannt, immer den Ballführenden unter Druck setzen zu wollen. Der Gegner sollte keine ruhige Sekunde am Ball haben. Das funktionierte eigentlich immer ganz gut – mal flog man wie gegen Mönchengladbach mit sechs oder vier Gegentoren auf die Schnauze, das war aber eher die Ausnahme.
Bei Shakhtar Donetsk, wo er mit seinem Team in der Liga plötzlich in (fast) jedem Spiel Favorit ist, hat sich dieser Ansatz natürlich nicht geändert. Wobei im Spiel gegen Inter Mailand ein kleiner Stilwandel zu erkennen war:
Statt den Gegner bereits extrem hoch zuzustellen, stellten sich die Ukrainer ein kleines Stück tiefer. Wurde der Ball dann kurz gespielt, attackierten die Tabellenzweiten den Ballführenden sofort im Vollsprint. Statt also den Gegner so zuzustellen, dass dieser den Ball sofort lang knallt, wollte man den ersten Pass kurz provozieren, um dann Druck aufzubauen.
Das wahrscheinliche Ziel dahinter: Man könnte den Ball sauberer und höher gewinnen, wodurch die anschließende Torchance besser wäre. Inter zeigte sich jedoch derart planlos im Spielaufbau, dass der Ball zwar kurz laufen gelassen wurde, dann aber lang geschlagen wurde. So hatte das Team von Roberto de Zerbi mal eben 66% Ballbesitz – ein Tor sprang aber nicht heraus.
Ausblick auf die weitere Saison
Im Spiel gegen Inter zeigte sich eins der typischen Probleme, welche die Teams de Zerbis gegen Top Mannschaften haben: Vieles ist darauf angelegt, die Flügel freizuräumen und von dort dann Dribblings über die Flügelspieler zu suchen. Das Ganze wird jedoch problematisch, wenn der gegnerische Außenverteidiger dem eigenen Flügelspieler individuell überlegen ist.
Können dort keine Durchbrüche kreiert werden, tut sich das Team schwer, anderweitig zu Torchancen zu kommen. Dann wird der Ball viel hinten zirkuliert, ohne dass es klar zum Tor ausgerichtete Aktionen gibt.
So konnte Donetsk in den ersten beiden Champions League Spielen gegen den FC Sheriff und Inter Mailand noch kein Tor erzielen – trotz durchschnittlich 70% Ballbesitz! Auch gegen Dynamo Kiew hatte man in der Liga 55% Ballbesitz, schoss aber kein einziges Mal aufs Tor.
Dazu kommt noch der langfristige Ausfall von Mittelstürmer Lassina Traoré, der dem Team wehtun wird. Doch de Zerbi wäre nicht de Zerbi, wenn er sich in den nächsten Wochen nicht eine Lösung dafür überlegen würde.
Dabei machen alleine das unkonventionelle Aufbauspiel und das flexible Bewegungsspiel (fast) aller Spieler Shakhtar Donetsk in dieser Saison zu einem „Team to watch“. Dazu kommen individuell starke und interessante Spieler wie Pedrinho, Solomon oder der aufbaustarke Matvienko und die 37-jährige Torwartlegende Andriy Pyatov.
Am 19. Oktober geht es dann gegen Real Madrid – ob sie dort ihren Ballbesitzwert von 70% halten können?
Liverpool Montevideo: Zurück an die Spitze?
– von Daniel Bramkamp
Lange war der uruguayische Erstligist Liverpool nur „einer von vielen“ im Land: Immer im Schatten der großen Klubs Nacional und Peñarol, in guten Jahren in der Copa Sudamericana, in schlechten Jahren im Abstiegskampf.
Doch heute sind die Negriazules aus der Hauptstadt Montevideo aufregend wie kein zweites Team der Liga – definitiv ein „Team to watch“. Liverpool besticht vor allem mit einer fantastischen Offensive und der steten Produktion von Nachwuchstalenten. Damit bekleiden sie aktuell den vierten Platz in der Liga – und mehr wäre definitiv möglich.
Warum ist Liverpool sehenswert?
Vor allem hat Liverpool immer den Vorwärtsgang eingelegt. Das Team hat schon 42 Treffer erzielt, ganze sieben mehr als die zweitbeste Offensive von MC Torque und sogar 14 mehr als der Erste der Jahreshälfte, Plaza Colonia. Zu verdanken ist das vor allem dem Personal.
Hernán Figueredo beispielsweise ist im Spätherbst seiner Karriere der wohl beste Spielmacher der Liga. Der 36-Jährige flog lange unter dem Radar, spielte nur für kleinere Teams in Uruguay sowie in der weißrussischen und kolumbianischen Liga.
Heute aber ist er der klare Kopf der Mannschaft und überzeugt mit seiner Spielintelligenz und sauberen Technik. Neun Scorerpunkte in 18 Spielen zeugen von der Präsenz des meist als Achter agierenden Figueredo.
Damit ist Figueredo aber bei Weitem nicht Topscorer der Mannschaft. Das ist der Rechtsaußen Federico Martínez, der in 17 Ligaspielen auf ebenso viele Torbeteiligungen kommt (10 Tore, 7 Assists). Martínez‘ große Stärke sind seine Laufwege. Immer wieder startet er im genau richtigen Moment in die Spitze oder rückt ins Zentrum ein, zudem verfügt er über einen sehr guten Torabschluss.
Nach einem eher enttäuschenden Jahr zur Leihe in Argentinien (15 Spiele, drei Tore für Rosario und Independiente) fand er bei seinem Stammverein sein Glück wieder. Seine Leistungen sind dabei so eindrucksvoll, dass er im September sein Debüt in der A-Nationalmannschaft der Celeste feiern durfte – für Spieler der heimischen Liga ein recht seltenes Privileg.
Umso mehr dürfte er nun in den Fokus größerer Klubs gerückt sein. Dort ist sein kongenialer Partner aus der Eröffnungshalbserie schon gelandet: Juan Ignacio Colo Ramírez läuft nach 85 Toren in 166 Spielen für Liverpool nun in der Ligue 1 für AS Saint-Etienne auf.
Martínez und Ramírez stehen auch für eine weitere Stärke Liverpools: Die Jugendarbeit. Neun der 15 Spieler mit den meisten Einsätzen in dieser Saison trugen schon in ihrer Jugend das schwarzblau gestreifte Trikot des Klubs aus dem Stadtteil Belvedere. Der älteste der neun ist der 25-jährige Martínez, der jüngste ist Federico Díaz.
Laut einer Studie des International Centre for Sports Studies (CIES) gibt es weltweit nur sieben U20-Spieler, die mehr Erfahrung auf Topniveau gesammelt haben als der 18-jährige zentrale Mittelfeldspieler. Mit sechzehn Jahren debütierte Díaz Anfang 2020 in der ersten Mannschaft Liverpools – und wie: Beim 4:2 im Supercup über Nacional spielte er gleich 120 Minuten durch und traf zum Endstand.
Seitdem ist er praktisch nicht mehr wegzudenken aus der Elf der Negriazules. Aktuell kommt er in einer relativ defensiven Rolle zum Einsatz, um den Offensivgeist seiner Kollegen auszubalancieren, doch mit seiner Laufstärke, seinem Einsatzwillen und seiner Torgefahr könnte mittelfristig auch eine Box-to-Box-Rolle in Frage kommen.
Youngest player in 🇺🇾 getting consistent 1st team mins, Fabricio Díaz (03/DM) embodies the "garra charrúa" mantra. Midfield dynamo who seemingly is all over the pitch and super aggressive in defensive duels, although passing range can prove to be too shorthttps://t.co/VTjySmZpGH
— Vylela (@Vylela1) May 19, 2021
Auch auf anderen Positionen kommen vor allem Talente zum Einsatz. Beispielhaft dafür ist die Rechtsverteidigerposition: Federico Pereira (21) hatte hier eigentlich die Nase vorn und sich ins Blickfeld der Nationalmannschaft gespielt.
Als er sich am Kreuzband verletzte, sprang der gleichaltrige Gastón Martirena in die Bresche und machte zuletzt mit einem Tor nach 60-Meter-Sprint von sich reden. Neben den U20-Nationalspielern Gonzalo Pérez und Martín Fernández gibt es noch einige weitere Kandidaten für einen baldigen Durchbruch, wie etwa Linksverteidiger Mathías Pintos oder der offensive Freigeist Alan Medina.
Was macht Liverpool sonst so?
Rein tabellarisch steht Liverpool gut, aber nicht überragend da: Mit 36 Punkten aus 20 Spielen liegt das Team auf Rang 4 der Jahrestabelle und damit fünf Punkte hinter den Tabellenführern Plaza Colonia und Peñarol. Dass es trotz der überragenden Offensive nicht für mehr reicht, ist vor allem der fehlenden Konstanz und defensiven Abgebrühtheit geschuldet. Ganze sieben Punkte ließ man beispielsweise nach eigenen 2:0-Führungen liegen. Hätte man diese Führungen über die Zeit gebracht, läge man also ganz vorne!
Immer wieder durchläuft das Team Phasen kollektiven Tiefschlafs, doch auch Konzentrations- und Geschwindigkeitsprobleme in der Abwehr wurden immer wieder augenfällig.
Das Defensivkonzept verantwortet aktuell Trainer Jorge Bava, der eigentlich einen ganz anderen Beitrag zur defensiven Stabilität leisten sollte: Der 40-Jährige war als Stammkeeper vorgesehen, doch als in der laufenden Hinrunde Trainer Marcelo Méndez in die mexikanische Liga wechselte, wurde Bava direkt zum Chefcoach befördert.
Dieser Mut hat System: Keiner der letzten vier Trainer war älter als 42 Jahre und keiner zuvor hatte mehr als zwei Profistationen als Cheftrainer.
Und die Jungtrainer füllen den Trophäenschrank von Liverpool, das zuvor keinen einzigen Titel auf Erstliganiveau gewonnen hatte – Paulo Pezzolano holte 2019 das Zwischenturnier Torneo Intermedio, sein Nachfolger Román Cuello den Supercup 2020, dann gewann Marcelo Méndez das Torneo Clausura 2020/2021. Besonders Pezzolano und Méndez prägten den Klub mit ihrer mutigen Spielphilosophie – und das sieht man auch jetzt noch.
Ausblick auf die weitere Saison
Die uruguayische Liga gliedert sich in eine Hinrunde (Apertura) und eine Rückrunde (Clausura). Die Hinrunde beendete Liverpool auf Rang 4. In der Rückrunde wäre nach nur fünf gespielten Spielen (3 Siege, 2 Niederlagen) theoretisch noch alles drin.
Doch im Gegensatz zur Vorsaison, als Liverpool zum Clausura-Titel stürmte, wirkt die Mannschaft aktuell bei aller offensiven Power etwas weniger stabil. Daher ist mit einem weiteren Titelgewinn momentan nicht zu rechnen.
Der Fokus dürfte darauf liegen, die Talente weiterzuentwickeln und einen Weg zu finden, Offensive und Defensive besser zu balancieren. Aber für uns Zuschauer muss das vielleicht gar nicht unbedingt sein – denn Toptalente und Tore satt, diese Kombination schmeckt eigentlich ganz gut.
SSC Napoli: Reif für den Titel?
– von Jascha Winking
Mit ungekannter Reife und einer spektakulären Siegesserie zu Saisonstart verzückt die SSC Napoli ihre Fans und ruft so Erinnerungen an lange vergangene Zeiten wach: Die Medien sprechen schon von Fußball „wie zu Maradonas Zeiten“. Trainer Luciano Spalletti scheint perfekt zur Mannschaft zu passen – und die Mannschaft zu ihm.
„Napoli ist überhaupt kein Klub, sondern der Seelenzustand einer Stadt“, schrieb Kicker-Italien-Korrespondent Oliver Birkner einst. Wenn er recht hat, muss es Neapel gerade ziemlich gutgehen.
In der ersten Saison nach dem Tode Diego Armando Maradonas, dem Schutzheiligen der Società Sportiva Calcio Napoli, hat die SSC einen Rekordstart hingelegt: Sieben Siege aus den ersten sieben Ligaspielen gelangen dem Team, das die letzte Saison noch auf einem enttäuschenden fünften Rang beendet hatte – in einer Stadt die stets verstohlen Richtung Scudetto blickt, ist das deutlich zu wenig.
Und so schasste Klub-Boss Aurelio Di Laurentiis, der sein Brot ganz bodenständig mit dem Drehen von Hollywood-Filmen verdient, nach Ablauf der letzten Saison Coach Gennaro Gattuso. An seiner statt heuerte Luciano Spalletti in Kampanien an, der Mann mit den meisten Spielen unter den aktiven Serie-A-Trainern.
Warum ist Napoli sehenswert?
Spalletti kam nach Neapel mit der Empfehlung zweier Jahre bei Inter Milan, in denen er den wankenden Riesen aus der Lombardei zurück in die Champions League geführt hatte. Die Saison nun hätte für Spalletti und seine Partenopei nicht besser beginnen können – die volle Punkteausbeute nach sieben Spielen hat Seltenheitswert im Profifußball.
Lob von ganz oben ließ da nicht lang auf sich warten: Serie-A-Boss Luigi De Siervo erklärte Spalletti jüngst zu einem der „wichtigsten Trainer Europas“ und attestierte ihm die Fähigkeit, „immer das Beste aus seinen Spielern herauszuholen“, was zu „spektakulärem und gleichzeitig effektivem Spiel“ führe. Ganz falsch liegt De Siervo da sicherlich nicht: Napoli spielt in dieser Saison einen Offensivfußball, der genau auf die Einzelkönner des Kaders zugeschnitten zu sein scheint.
„Mein Eindruck ist, dass Napoli sowohl taktisch als auch emotional viel besser vorbereitet ist als letzte Saison“, sagt Fiamma Yanis, argentinische Journalistin, die die SSC Napoli intensiv beobachtet, im Gespräch mit uns. „Luciano Spalletti bringt das Beste eines jeden Spielers zum Vorschein, wie etwa bei Osimhen, der auf dem Platz zu einem Leader geworden ist oder bei Insigne, der die Mannschaft anschiebt.“
Wer die aktuelle Situation verstehen will, sollte eine wunderbare Anekdote kennen, die man sich in Neapel erzählt: 1987, es stand gerade das Topduell gegen die zweitplatzierte AS Roma an, streikte der neapolitanische Nahverkehr und legte so die gesamte Stadt lahm.
Ein Mann namens Umberto Fiorentino besorgte sich – ganz in der Tradition der typisch neapolitanischen Schlitzohrigkeit – einen alten Bus, mit dem er tagelang, natürlich ohne Genehmigung, die Hauptverkehrsadern der Metropole abfuhr und satten Profit einheimste; müßig zu erwähnen, dass er weder die riesige Kommune noch die mitarbeiterstarken Verkehrsbetriebe oder die mächtige Mafia am Gewinn beteiligte.
Ob Luciano Spalletti diese Geschichte kennt, ist nicht überliefert. Er selbst aber ist so etwas wie die Wiedergeburt des Umberto Fiorentino; hat bisher alle mächtigen Konkurrenten aus dem Norden, die Napoli schon mit Plakaten wie „Wascht euch!“, „Willkommen in Italien“ oder „Forza, Vesuv!“ in ihren Stadien begrüßten, mit seinem Napoli-Bus hinter sich gelassen. „Luciano Spalletti kam, versprach und liefert nun“, sagt Fiammi und fügt hinzu: „Napoli steht an der Spitze der Serie A, während andere italienische Granden wie Juventus oder Inter weiter unten stehen.“
Spalletti, der bei eben jenem Inter auf den grandiosen Punkteschnitt von 1,8 pro Spiel kam, hat entscheidend am Selbstverständnis von Einzelspielern und Kollektiv gefeilt. Die Achse Koulibaly – Ruiz – Insigne – Osimhen gehört zu den besten Europas: Koulibaly ist der physisch unschlagbare Fels in der Defensiv-Brandung, während Fabián Ruiz genau spielt, wie sich das jeder Trainer von einem großen Mittelfeldspieler wünscht: unauffällig, aber enorm ball- und passsicher und mit beeindruckender Übersicht.
Gallionsfigur dieser Napoli-Mannschaft ist allerdings Lorenzo Insigne, der ewige Neapolitaner mit seinem riesigen Maradona-Tattoo auf dem Oberschenkel, Identifikationsfigur für die Tifosi sowie Kapitän und Spielmacher seiner Mannschaft gleichermaßen.
Mit seinen Assists sucht er meist Victor Osimhen, der sowohl klassischer Zielspieler für Steil-Klatsch ist als auch Dribbler oder Alleinunterhalter für drei gegnerische Verteidiger. Besonders auffällig im Napoli-Spiel dieser Saison: die Standardstärke.
Mehrere Treffer erzielte Spallettis Team bereits nach Ecken, der kosovarische Innenverteidiger Amir Rrahmani war sogar schon zweimal nach Freistoßvarianten erfolgreich. Es scheint, als wäre das einer der Trainingsschwerpunkte von Spalletti, draußen auf den Übungsplätzen in Castel Volturno zwischen Pinienhainen und Meer.
„Überall dort, wo Napoli im Vorjahr Schwächen hatte (Abstimmung zwischen defensivem Mittelfeld und Hintermannschaft, Chancenverwertung gegen tiefstehende Gegner und Verkrampfung), erscheint die Mannschaft nun wesentlich stabiler“, sagt Marius Soyke, Host des FUMS-Podcasts „SERIEAMORE“, im Gespräch mit Cavanis Friseur. „Aber natürlich ist es noch sehr früh in der Saison und bei der SSC ist ein (kleinerer) Einbruch traditionell immer drin.“
Ob der kommt, kann niemand sagen, aber Spallettis Napoli wirkt bisher nicht nur spielerisch, sondern auch taktisch recht stabil: Permanent wechselt die Mannschaft zwischen 4-2-3-1 und 4-3-3. Die schnelle Umstellung funktioniert vermutlich deshalb so gut, weil acht der elf Spieler in beiden Systemen gesetzt sind.
Diese selbst für gefestigte Mannschaften riesige Achse dürfte der große Vorteil von Napoli sein: Abläufe, im Pressing wie im Gegenpressing, aber auch bei einstudierten Spielzügen funktionieren schon ohne Probleme. Und jetzt kommt nach langer Verletzung auch noch der neapolitanische Rekordtorschütze zurück, Publikumsliebling Dries Mertens, dem sie ob seiner Identifikation mit Stadt und Verein schon den neapolitanischen Vornamen „Ciro“ als Spitznamen aufgedrückt haben.
Was macht Napoli sonst so?
Trotz der weißen Punkte-Weste ist bei Napoli nicht alles sauber: „Eine Schwäche, die im weiteren Saisonverlauf noch signifikanter werden könnte, sehe ich auf den Außenverteidigerpositionen“, erklärt Soyke. „Di Lorenzo ist über alle Zweifel erhaben, Malcuit hat gegen Leicester aber gezeigt, dass er auf diesem Niveau nicht mithalten kann. Und Rui auf der anderen Seite macht es derzeit solide, ist aber kein Spieler, der mittelfristig bei einem Meisterschafts- oder wenigstens Champions-League-Kandidaten Stammspieler sein sollte.“
Fiammi fügt hinzu: „Wenn wir über Schwächen sprechen müssen, habe ich die Defensive in einigen ersten Halbzeiten ziemlich nachlässig gesehen.“ Und in der Tat: In den Liga-Spitzenspielen gegen den Lieblingsfeind aus Turin (2:1) sowie die AC Florenz (2:1) als auch in den beiden bisherigen Europa-League-Partien gegen Leicester City (2:2) und Spartak Moskau (2:3) geriet Napoli in Rückstand.
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Und auch gegen den vermeintlich schwachen Aufsteiger aus Venedig schwamm die Napoli-Defensive ordentlich. Nur bei den beiden 4:0-Erfolgen in Udine und bei Sampdoria Genua sowie gegen Cagliari (2:0) kassierte Neapel kein Tor. Will die SSC in dieser Saison wirklich ernsthaft den Scudetto angreifen, muss sie diese Schläfrigkeiten ausmerzen. Immer erst einem Rückstand hinterherlaufen zu müssen, kostet im Laufe einer Spielzeit wertvolle Kraft.
Für die Neapolitaner jedenfalls ist der Scudetto eine Obsession. Nur zweimal in der Klubgeschichte – mit dem Heiligen Diego, natürlich – konnten die Tifosi die Meisterschaft feiern.
Ausblick auf die weitere Saison
Das Thema ist ein sensibles. In einer Stadt, die wie keine andere europäische dem Aberglauben anhängt, will niemand hinterher schuld sein, den Scudetto durch zu große Töne vermasselt zu haben. „Ich glaube, dieses Napoli wird uns diese Saison noch viel Freude bereiten“, sagt Fiammi. Wird sie auf den Scudetto angesprochen, lacht sie: „Lass uns besser nicht darüber sprechen. Aber ich sehe die Mannschaft auf einem sehr guten Weg.“
Der neapolitanische Schriftsteller Luciano De Crescenzo schrieb einst: „Napoli ist ein enormes Labor menschlicher Empfindungen und Leidenschaften.“ Die neapolitanische Leidenschaft – das sei noch einmal deutlich gesagt – war immer die SSC; die Empfindungen in dieser Saison dürften indes irgendwo zwischen Unglaube, Versagensangst, Stolz und Liebe liegen – denn die SSC, dieser Seelenzustand einer ganzen Stadt, ist glücklich und macht glücklich.
Vielleicht schickt der Heilige Diego ja irgendwann auch noch ein paar helfende Hände Gottes auf den Rasen hinab – um die Meisterschaft im Jahr 1 n.D. endlich zurück nach Neapel zu bringen.
Olympique Marseille – Wo Ballbesitz so richtig Spaß macht
– von Till Oppermann
2015 gewann Chile im eigenen Land die Copa America. Der Trainer der Mannschaft war Jorge Sampaoli. Dabei hatte dieser Jahrzehnte zuvor schon mit dem Fußball abgeschlossen. Als Jugendspieler der Newell‘s Old Boys musste er seine Laufbahn wegen eines Schien- und Wadenbeinbruchs beenden, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte.
In Folge dessen arbeitete er in einer Bankfiliale in seinem Geburtsort Casilda in Argentinien. Im Eindruck von Marcelo Bielsa, der Anfang der 90er Jahre Sampaolis Jugendverein in Rosario trainierte, wandte er sich dem Fußball wieder zu und entwickelte eine nahezu fanatische Verehrung für El loco.
Bis heute ist das Spiel von Sampaolis Mannschaften geprägt von Bielsas Ideen. Er setzt auf atemberaubendes Pressing auf dem ganzen Feld, eine immense Physis und Laufbereitschaft und schnörkellose Angriffe. Das und seine unberechenbare Persönlichkeit machen den Argentinier zu einem der interessantesten Trainer der Welt.
Nur ein halbes Jahr nach dem Sieg bei der Copa America kaufte er sich aus eigener Tasche aus seinem Vertrag beim chilenischen Verband. Sampaoli, der Ehrgeizige, hatte neue Ziele. Endlich wollte er als Vereinstrainer in einer der besten Ligen der Welt arbeiten.
Jorge Sampaoli justifiably yelling at how this crap shouldn’t have happened.
Marseille players going to their dressing room as Nice board tries to calm down their insane Ultras. pic.twitter.com/SoEoI2HSPO
— TWDTV (@TWDTV1) August 22, 2021
Er lehnte ein Angebot des FC Chelsea ab und übernahm den FC Sevilla – allerdings nur für ein Jahr. Einem Angebot des argentinischen Verbandes konnte er nicht widerstehen. Seit März 2021 ist Sampaoli als Trainer von Olympique Marseille zurück auf der europäischen Bühne.
In der vergangenen Saison führte er das Team in den verbleibenden Wochen der Saison noch in die Europa League, aber in dieser Saison hat der Verein größere Pläne.
Mit 15 externen Neuzugängen für insgesamt 60 Millionen Euro wurde der Kader nach Sampaolis Vorstellungen umgebaut. In den ersten Wochen der Saison bot die neu formierte Mannschaft aufregenden Fußball. Doch zuletzt kam sie mit Niederlagen gegen Lens und Lille leicht ins Straucheln.
Warum ist Olympique Marseille sehenswert?
Einer der Gründe für den massiven Kaderumbau bei l’OM ist Sampaolis veränderte Formation. Anders als sein Vorgänger André Villas-Boas, der gerne mit zwei Innenverteidigern spielen ließ, setzt der 61-Jährige auf drei zentrale Abwehrspieler. Um diesem Wunsch zu entsprechen, verpflichtete man unter anderem Leonardo Balerdi von Borussia Dortmund und lieh William Saliba vom FC Arsenal.
Schon nach Sampaolis Ankunft im März spielte Marseille mehr Pässe und mit dominanterem Ballbesitz. In seinen eigentümlichen 3-1-4-2- oder 3-3-1-3-Formationen gibt es keine Außenverteidiger. Im Spielaufbau bilden die drei Innenverteidiger und ein defensiver Mittelfeldspieler eine Raute.
Sampaoli wünscht sich einen Spielaufbau durch die Mitte, häufig lässt sich der Mittelstürmer neben einen Zehner fallen, um durch ein Fünfeck verschiedene Passwege für die Aufbauspieler anzubieten. Frühe Pässe auf die Außenbahn gibt es nur, wenn alle Passwege auf einen der zentralen Spieler in der zweiten Reihe zugestellt sind.
Das Ergebnis sind viele kurze Pässe und Läufe zwischen den Linien des Gegners. Die flexiblen Olympiens provozieren auf diese Weise regelmäßig Abstimmungsprobleme in der gegnerischen Defensivarbeit. Die Außenstürmer halten sich gleichzeitig weit an den Seitenlinien auf und zwingen so die gegnerischen Außenverteidiger breit zu stehen.
Das Ziel: Sampaoli möchte auf jeder Linie Überzahl kreieren. Nachdem die Aufbau-Raute die erste Pressinglinie überspielt hat, sollen die zentralen Mittelfeldspieler sich durchkombinieren, um dann im letzten Drittel auch die Flügelstürmer einzusetzen. Mit den spielstarken Valentin Rongier, Matteo Guendouzi, Gerson, Dimitri Payet und Amine Harit stehen zahlreiche kombinationsstarke Spieler zur Verfügung. Auf den Außenbahnen lauern dann sehr breit und hoch postiert die schnellen Kollegen Cengiz Ünder oder Konrad de la Fuente.
Wie verteidigt Olympique Marseille?
Ohne Ball formiert sich in der Defensive eine Viererkette. Dafür lässt sich entweder der halblinke oder halbrechte Mittelfeldspieler auf die Links- respektive Rechtsverteidigerposition fallen. Situationsabhängig verschieben die drei Innenverteidiger entweder nach links oder rechts, um Platz zu schaffen.
Gleichzeitig rücken die Flügelspieler ein und ein offensiver Mittelfeldmann rückt eine Position nach hinten. Es entsteht ein 4-1-4-1, aus der Formation, die stets für Überzahl sorgen soll, wird gegen den Ball eine kompakte Einheit.
#Sampaoli @OM_Officiel pic.twitter.com/QIKmbav1XD
— Branko Nikovski (@NikovskiBranko) September 17, 2021
Dieses Prinzip wird auch in hohen Pressingphasen gegen den Ball eingehalten. Sampaoli verlangt von seiner Mannschaft in erster Linie die Mitte zu schützen. Sind zwei Spieler zu decken, entscheiden sich die Olympiens stets für den zentraler postierten Gegner.
Auf diese Weise soll das Aufbauspiel des Gegners auf eine Seite beschränkt werden, weil die Möglichkeit fehlt, über Pässe durch die Mitte die Seite zu verlagern.
Allerdings: Bisher ist die Mannschaft von Sampaoli durch die Transformation in schnellen Umschaltmomenten gerade über die Außenbahn durchaus verwundbar.
Ausblick auf die weitere Saison
Das Remis gegen Angers und die Niederlagen gegen Lens und Lille haben den Saisonstark etwas getrübt. Dabei bewiesen die Marseillaise in den ersten Spielen durchaus, dass sie in der Lage sind Sampaolis aufwändiges Spiel gut zu adaptieren.
Neuzugänge wie Amine Harit und Cengiz Ünder zeigten in der Offensive ihre Brillanz und mit dem jungen Senegalesen Bamba Dieng, der in seinen ersten sechs Spielen drei Tore erzielte und eins auflegte scheint im Angriff ein Shootingstar zu reifen.
Gerade weil die Ideen des Trainers so einzigartig sind, ist die Entwicklung der Mannschaft noch lange nicht abgeschlossen. Die zahlreichen jungen Akteure sind lernhungrig. Sollten Verein und Trainer jeweils die Geduld miteinander behalten, sollte an der französischen Südküste ein Team reifen, das perspektivisch um die Meisterschaft mitspielen kann.
In dieser Saison sollte das Hauptziel darin bestehen, sich zu stabilisieren und einen Champions League Platz zu erobern. Fans aus aller Welt werden es nicht bereuen, die Spiele von l’OM zu verfolgen. Die aufregenden Spieler, das hohe Pressing, die hohen Flügelstürmer und der Fokus auf Ballbesitz versprechen unterhaltsame Spiele.
LDU Quito: Der Spaß am Spiel
– von Johannes Skiba
Auch abseits der großen europäischen Fußballbühne gibt es Länder in denen aufregender Fußball gespielt wird. In Südamerika sind vor allem die brasilianische und argentinische Liga im Fokus.
Doch auch in der LigaPro Serie A in Ecuador gibt es sehenswerten Fußball und vielversprechende Talente zu bestaunen. Neben der neuen, großen Talenteschmiede von Independiente del Valle und Copa Libertadores-Halbfinalist Barcelona SC, findet man natürlich auch in der ecuadorianischen Hauptstadt aufregenden Profifußball.
LDU Quito bietet diese Saison spektakuläre Spiele – allerdings größtenteils erst seit der zweiten Saisonhälfte, der Segunda Etapa. 23:15 Tore nach neun Spieltagen versprechen durchschnittlich über vier Treffer pro Partie. In der Primera Etapa, die Mitte Juli zu Ende ging, reichte es nur für Platz 6.
Infolgedessen musste ein neuer Trainer her. In Pablo Marini fand man Anfang Juli einen erfahrenen Mann, der es seitdem eindrucksvoll schafft, dass enorme Offensivpotenzial des Kaders zu entfalten.
Der Argentinier kann auf eine abwechslungsreiche Vita mit Stationen in Argentinien, Mexiko, Chile und Uruguay zurückblicken.
Ein erstes, kleines Ausrufezeichen setzte er kurz nach Amtsantritt im Achtelfinale der Copa Sudamericana gegen Grêmio. Nach der 0:1-Heimniederlage setzten sich die Ecuadorianer eine Woche später mit 2:1 in Porto Alegre durch.
Im Viertelfinale traf Liga de Quito auf den brasilianischen Verein Athlético Paranaense. Das Hinspiel gewann die Ecuadorianer mit 1:0. Das Rückspiel in Paraná verloren sie mit 4:2. Das letzte, entscheidende Tor erzielten die Brasilianer durch einen mehr als fragwürdigen Elfmeter. Das Ausscheiden war insgesamt unverdient und unnötig.
Die spielerische Qualität von Quito in den K.O.-Partien der Sudamericana, den vorausgegangenen Begegnungen in der Copa Libertadores und den Leistungen der Segunda Etapa zeigen: In Zukunft ist einiges möglich für Quito. Was aber macht den Fußball des 11-fachen Meister so attraktiv?
Warum ist LDU Quito sehenswert?
Wenn man sich Spiele von LDU Quito anschaut, fällt vor allem eines auf: Die Jungs auf dem Platz haben richtig Spaß.
Die technisch herausragende Offensive biete eine Reihe von großartigen, jungen Fußballspielern, die sich von Spiel zu Spiel besser zu verstehen scheinen.
Eine der ersten Änderung von Trainer Marini war der Systemwechsel von einem 4-2-3-1 zu einem 4-4-2 mit Raute und einer damit verbundenen kleinen aber umso effektiveren Umschulung von Jordy Alcívar. Der 22-Jährige spielte den größten Teil seiner bisherigen Profikarriere als eher klassischer 6er. In vielen Spielen deutete er zwar auch schon in der Vergangenheit seine Offensivstärke an, doch seine primären Aufgaben lagen in der Balleroberung und -verteilung.
Der junge Ecuadorianer spielte im defensiven Mittelfeld immer eine gute und wichtige Rolle. Marini baut nun auf Alcívar als 10er hinter den Spitzen – mit Erfolg. Seine neuen offensiven Freiheiten scheinen ihn auf das nächste Level gehoben zu haben. So ist Jordy Alcívar meiner Meinung nach der Spieler mit der vielversprechendsten Zukunft in den Reihen Quitos.
In der Sturmspitze macht der vielleicht größte ecuadorianische Shootingstar dieses Kalenderjahres auf sich aufmerksam: Djorkaeff Reasco. Schon mit sieben Jahren spielte er durch seinen Vater, den ehemaligen ecuadorianischen Nationalspieler Néicer Reasco, in den Jugendmannschaften von LDU.
2017 gab er sein Profidebüt, Anfang 2020 ging er leihweise in die zweite mexikanische Liga zu den Dorados de Sinaloa, wo er vor allem aufgrund der Corona-Pandemie nicht viel bewirken konnte. Seine Rückkehr Ende letzten Jahres ist im Nachhinein ein Glücksfall für Verein und Spieler.
Reasco vereint in seinem Spiel sehr viele, wichtige Attribute eines Mittelstürmers. So erzielte er seine sieben Tore in diesem Jahr äußerst abwechslungsreich: Mal traf er mit seinem starken rechten Fuß, mal mit links, mal aus der Distanz, mal im 1-gegen-1 mit dem Torwart und einmal, trotz seiner Körpergröße von nur 1,72 Metern, sogar per Kopf. Seine Spielweise ist sehr abschlussorientiert, wenngleich auch Dribblings, Sprintschnelligkeit und Kombinationsstärke zu seinen überdurchschnittlichen Fähigkeiten gehören.
Er zählte in vier der letzten sechs Ligaspielen zur Startelf. Mit 22 Jahren hat er den Durchbruch, der ihm teilweise nicht mehr von allen im Verein zugetraut wurde, nun endlich geschafft.
Neben ihm stürmt in der Regel der Paraguayer Luis Amarilla, der von Vélez Sarsfield aus Buenos Aires ausgeliehen ist. Der flinke Mittelfeldstürmer hat seinen Abschluss seitdem Trainer Marini im Amt ist, deutlich verbessern können. In Kombination mit seiner Schnelligkeit und seinem selbstbewussten Durchsetzungsvermögen wurde der 26-Jährige zu einer echten Waffe. Seine Formstärke brachte ihn Anfang September sogar in die Albirroja, wo er in allen drei WM-Qualifikationsspielen eingesetzt wurde.
Zusätzlich steht mit dem 18-jährigen Nilson Angulo ein großes Talent im Kader, das zuletzt sein Tordebüt feiern durfte. Er unterscheidet sich in seinem Spielstil deutlich von Reasco und Amarilla und bietet seinem Trainer somit eine flexible Wechselmöglichkeit.
Viel mehr als seine Sturmkollegen ist Angulo eher ein klassischer 9er, der Bälle festmachen kann und besonders von einem quirligen Spielertypen wie Reasco profitiert, der um ihn herum wuselt und arbeitet.
Den fußballerisch ansprechendsten Teil der Arbeit verrichten aber drei andere junge Ecuadorianer: Adolfo „Picante“ Muñoz, Jhojan Julio und Billy Arce.
Die drei zeichnen sich durch eindrucksvolle technische Fähigkeiten aus. Ihnen ist es möglich nahezu jede Situation spielerisch zu lösen. Dazu bieten diese Spieler gerne kleinere und größere Showelemente für den Zuschauer wie No-Look-Pässe oder mitreißende Dribblings gegen die komplette Hintermannschaft des Gegners, die zugegebenermaßen nicht immer erfolgreich, aber in der Regel äußerst sehenswert sind.
Da sich Muñoz, Julio und Arce in ihrem Spielstil sehr ähnlich und leider oft verletzt sind, stehen die Ausnahmespieler nie alle gleichzeitig auf dem Platz.
Was macht LDU Quito sonst so?
Die Ausrichtung des Teams unter Neu-Coach Marini ist eindeutig.
Denn auch die Defensive partizipiert am Angriffsspiel. Der Topscorer Quitos in der Serie A ist dieses Jahr bisher Linksverteidiger Christian Cruz, der bisher vier Tore erzielte und fünf Vorlagen gab.
Das regelmäßige Offensivfeuerwerk geht jedoch häufig zu Lasten der Defensivarbeit. Vor allem in der Innenverteidigung fehlt die nötige Geschwindigkeit, um der Konteranfälligkeit unter Kontrolle zu bringen.
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Ex-Eintracht Frankfurt Spieler und Stamminnenverteidiger Andersson Ordóñez füllt dieses dringende benötigte Profil nicht aus. Der mittlerweile 27-Jährige ist nach wie vor mit seiner Statur sehr präsent und stark bei ersten Bällen. Seine Geschwindigkeit sowohl in Bezug auf seine Sprint- als auch seine Entscheidungsfähigkeit ist eine große Schwachstelle bei Liga de Quito.
Dass aber auch er Teil des Spaßfußballs made in Quito ist, bewies er am 7. Spieltag gegen Primera Etapa-Gewinner Emelec. Erst traf er nach drei Minuten äußerst kurios ins eigene Tor, nur um dann nach 63 Minuten den 3:2-Siegtreffer zu erzielen – und das per Panenka-Elfmeter.
Ausblick auf die weitere Saison
Es gibt also einiges zu sehen und zu erleben bei den Spielen von LDU Quito. In der Tabelle liegen die Hauptstädter aktuell auf Rang zwei dicht hinter Tabellenführer Independiente del Valle. Zum Showdown kommt es am 24.10.2021, Sonntag früh 3 Uhr MEZ in La Casa Blanca von Quito. Wer also an diesem Wochenende spät aus der Kneipe zuhause eintrudelt, sollte sicher gehen, dass der anschließende Fast-Food-Konsum vor dem Bildschirm bei der Partie LDU Quito – Independiente del Valle stattfindet.
Der Gewinner der Segunda Etapa trifft dann Ende des Jahres auf Primera Etapa-Gewinner Emelec, um die ecuadorianische Meisterschaft auszuspielen.