Was haben Mascherano, Pique, Victor Valdes, Xavi, Fabregas, Pedro, Neymar und Messi gemeinsam?
Richtig – sie alle haben von Anfang an gespielt, als der FC Barcelona zum ersten Mal seit 315 Spielen weniger Ballbesitz als der Gegner hatte (46%). Das Spiel fand genau vor fünf Jahren am 21. September 2013 statt und zwar gegen… Rayo Vallecano, ein spanischer Verein aus dem Madrider Stadtviertel Vallecas.
Damals noch von Paco Jemez trainiert, stand das Team am Ende der Saison auf dem 12. Platz und hatte mit durchschnittlich 56,9% den zweithöchsten Ballbesitzwert in der spanischen Liga; hinter Barcelona mit 63,7%.
Doch wie gelang es Rayo, im direkten Aufeinandertreffen mehr Ballbesitz als der FC Barcelona zu haben?
Paco Jemez, ein Trainer der wie kaum ein Anderer zwischen Genie und Wahnsinn hin- und herspringt, hat sein Team das machen lassen, was er sein Team immer hat machen lassen: Fluide mit und gegen den Ball sein.
Rayo startete in einer 4-3-3 Grundformation, bei der es in Ballbesitz und im Pressing zahlreiche Umformungen gab. Diese Umformungen entstanden durch einzelne Mannorientierungen, besonders in Aufbausituationen Barcelonas. Außerdem sorgte das extrem aggressive Pressing dafür, dass die Staffelungen immer wieder anders waren: Vallecano schob immer mit mehreren Akteuren auf den ballführenden Gegenspieler.
Das Pressing war dadurch höchst ungewöhnlich. Selten gab es das typische Leiten nach außen zu sehen, stattdessen ging es in jedem Moment des Pressings darum, Zugriff zu erzeugen. In einer Szene lief Johan Mojica, nominell (wohl) als linker Flügel aufgeboten, den linken Innenverteidiger Barcelonas an, presste dem Pass zum Rechtsverteidiger nach und gliederte sich nach einem langen Ball schließlich ins Mittelfeldpressing ein.
Im Gegensatz zum „normalen“ Pressing war der Madrider Klub im Gegenpressing nicht mannorientiert. Zugriff wurde abermals mit aggressivem Pressing von mehreren Spielern erzeugt. Der Ballführende bekam von allen Seiten Druck auf den Ball und wurde quasi “umkreist”. Als attackierter Spieler musste man sehr pressingresistent sein, um sich lösen zu können.
Zum Ende des Spiels hatte der Torwart des FC Barcelona, der technisch durchaus versierte Victor Valdes, eine Passquote von 27%. Er spielte 27(!) lange Bälle, von denen drei einen Mitspieler fanden. Zum Vergleich: Ruben Martinez, Torwart der Verrückten, spielte 22 lange Bälle, von denen 14 ankamen.
Noch eine interessante Statistik, die die Aggressivität der Zugriffsfindung veranschaulicht (oder das Ungeschick im Zweikampf): Vallecano hatte nach 31 Minuten bereits 11 Fouls auf dem Konto, während Barca nur eins begangen hatte.
Rayo gefällt auch mit Ball
Paco Jemez Spieler demonstrierten ein ebenso starkes Ballbesitzspiel – sonst hätten sie wohl auch nicht mehr Ballbesitz gehabt. Trotz klarer individueller Unterlegenheit versuchten sie, das Spiel von hinten ruhig aufzubauen. Besonders beeindruckend war, wie schnell und sauber die Innenverteidiger auffächerten, um das Spiel breit zu machen.
Die Vallecanen formten ihr System in Ballbesitz häufiger zu einem 4-2-2-2 um. Entweder wurde der Halbraum oder das Zentrum doppelt besetzt, um bei Ballverlust schnell ins Gegenpressing zu kommen.
Die besten Anbindungen aber, ebenfalls untypisch, schuf Rayo am Flügel:
In dieser Einwurfsituation sind 8 (!) Spieler der Verrückten im Bild. Einzig die beiden Innenverteidiger sowie der Torwart sind nicht zu sehen, wobei der linke Innenverteidiger eine direkte Rückpassoption anbietet.
So kamen sie besonders über den starken Mojica zu einigen Durchbrüchen am Flügel. Ebenfalls individuell herauszuheben sind Saul Niguez – inzwischen Stammspieler bei Atletico Madrid und spanischer Nationalspieler – und Roberto Trashorras. Die beiden zentralen Mittelfeldspieler zeigten sich sehr ball- und passsicher und gaben dem nicht immer strukturierten Spiel Rayos eine Linie.
Barcelonas Ausrichtung
Barcelona spielte in Ballbesitz ebenso ein 4-3-3, wobei sich im Spiel auch einige 4-1-4-1 Staffelungen ergaben. Messi agierte dann als alleinige Sturmspitze. Song spielte als Sechser für den geschonten Busquets.
Die Formation der Katalenen war schematisch angelegt und sah wenig bis keine „besonderen“ Spielerrollen vor: Einzig Messi tauschte einige Male die Position mit dem nominell als rechten Flügel aufgebotenen Pedro oder ließ sich ins Mitteld fallen, allerdings tat er dies deutlich seltener als noch unter Guardiola.
Im Pressing agierte Barcelona erst in einer 4-1-4-1 Grundormation, formten diese aber bei fortschreitendem Spielverlauf häufiger zu einem 4-1-3-2 um.
Messi attackierte dann meistens den ballführenden Innenverteidiger, während der ballnahe Achter auf den Sechser durchschob. Der ballferne Flügelspieler rückte in eine Linie mit Messi vor und nahm den ballfernen Innenverteidiger in seinen Deckungsschatten.
Barcelonas Pressing sah vor, den Sechser Rayos nicht aufdrehen zu lassen und im Optimalfall einen langen Ball des Innenverteidigers oder einen Pass auf den Außenverteidiger zu provozieren; die Sechser Vallecanos bewegten sich aber klug und vorausschauend.
Entweder bewegten sie sich so, dass sie sauber mit einem Kontakt auf den Innen- oder Außenverteidiger klatschen lassen konnten, welche sich in der Zwischenzeit eine bessere Position verschafft hatten; oder sie ließen den direkten Pass des Innenverteidigers auf den Außenverteidiger zu, bieteten diesem aber nach weiträumiger Freilaufbewegung sofort eine Anspieloption an.
So überspielten sie das Pressing der Katalanen sauber und konnten den Ball verhältnismäßig ruhig im Mittelfeld zirkulieren lassen.
Doch Schluss mit den Lobeshymnen auf Rayo Vallecano; sie haben das Spiel nämlich 4:0 verloren. Trashorras vergab zwar einen Elfmeter, Barcelona hatte allerdings im gesamten Spiel mehr hochkarätige Torchancen. Nahezu jede Chance Barcelonas war eine Großchance.
Wie konnte Rayo Vallecano das Spiel 4:0 verlieren?
Zuerst ist die eindeutige individuelle Überlegenheit Barcelonas zu nennen: Xavi kann selbst in einer nur mittelmäßig strukturierten Mannschaft das Spiel merklich positiv in allen Spielphasen beeinflussen. Messi stellt in jeder Situation eine Gefahr für das gegnerische Tor dar und leitete zudem in diesem Spiel das 1:0 im Alleingang ein.
Wenn dann noch Pedro, bewegungs- und abschlussstarker Flügelspieler, einen Sahnetag erwischt und drei Tore erzielt, wird es schwierig mit dem Gewinnen.
Die Spieler aus Vallecas hingegen trafen viele falsche Entscheidungen: Mal kam ein Ball in die Spitze, wo eine horizontale Zirkulation die beste Lösung gewesen wäre. Ein anderes Mal wurde der Ball quer gespielt, obwohl der vertikale Pass offen gewesen wäre. Ihre meisten Chancen entstanden durch Flügeldurchbrüche, obwohl ihre Verbindungen im vielversprechenderen Halbraum ebenfalls gut waren.
Zu den individualtaktischen Problemen ließen sich zudem einige Probleme in der generellen Ausrichtung Vallecanos finden:
Das Problem von (Pressing-)Netzen
Rayos Pressing lässt sich ganz gut mit einem aufgespannten Netz vergleichen. Dieses Netz wird immer enger gespannt, wenn Beute (Anm.d.Red.: ein Ballgewinn) gewittert wird. Doch was ist das Problem von Netzen, egal wie gut und kohärent alles innerhalb des Netzes ist? Alles außerhalb des Netzes ist eine potenzielle Gefahr.
Alles außerhalb des Netzes stellen in diesem Fall das saubere Überspielen des Pressings vonseiten Barcelonas oder auch ein langer Ball in die Spitze dar. So überragend die Absicherung im ballnahen Raum war, so grausam war die Restverteidigung. Galvez und Marbilla waren häufig auf sich alleine gestellt und mussten Zweikämpfe mit Neymar, Messi und Co. bestreiten.
Es wurden die Schwachstellen des Pressings der Vallecanen deutlich: Das Gegenpressing griff sehr gut, doch wenn dieses einmal aufgelöst war, war die Verteidigung entblößt. Und ein Xavi oder Lionel Messi können ein Pressing auch umspielen, wenn sie von allen Seiten attackiert werden.
Überdies hatte das Netz einige Schwachstellen: Die Mannorientierungen wurden – besonders in der Anfangsphase – zu strikt eingehalten. Dadurch war die Raumaufteilung zeitweise katastrophal, wie im Bild zu sehen ist.
Pique hat viel Zeit am Ball und kann ungestört einen Diagonalball spielen. Das Mittelfeld agiert sehr eng an der situativ gebildeten Fünferkette Rayos, während der Abstand zu den vorderen Spielern größer ist.
Ob des Andribbelns und des erwartbaren Diagonalballs rückt die Kette nicht gemeinsam vor, um die Angreifer ins Abseits zu stellen. Einige Spieler weichen zurück, sodass schließlich kein Barca-Spieler im Abseits steht. Neymar und Adriano setzen mit Tempovorteil zum Tiefensprint an und können von der unharmonischen Verteidigung Rayos nicht aufgehalten werden.
Fazit
Rayo Vallecano lieferte größtenteils eine beeindruckende Leistung – mit und besonders ohne Ball – ab. Ihnen gelang es als erstes Team – nach über fünf Jahren und 315 Spielen – dem FC Barcelona die Hoheit über den Ballbesitz zu entziehen. Fehlende individuelle Qualität und das teils chaotische Pressing verwehrten Rayo schließlich ein besseres Ergebnis.
Trotzdem kann Rayo Vallecano als gutes Beispiel für unterlegene Mannschaften dienen: Mit einer neu zusammengewürfelten Mannschaft spielten sie mutig auf. Barcelona schien in der Anfangsphase überfordert und mit etwas Matchglück hätten die Vallecanen in Führung gehen können. Und auch wenn dieses Spiel 4:0 verloren wurde, so gelang ihnen in dieser Saison der Klassenerhalt auf dem zwölften Platz.
Mit attraktivem Ballbesitzfußball, den kaum ein Abstiegskandidat je so bedingungs- und kompromisslos aufgezogen hat.