Es ist der 31. August 2008. Josep Guardiola betritt die kleine Nussschale in der spanischen Stadt Soria. Das “Nuevo Estadio Los Pajaritos” ist an diesem Sonntagabend ausverkauft: 9500 Besucher wollen den Kampf zwischen David und Goliath sehen.
Der Aufsteiger CD Numancia empfängt den FC Barcelona – und damit “Pep” Guardiola in seinem ersten Liga-Spiel als Trainer der ersten Mannschaft von Barca.
Es sind gerade einmal zwölf Minuten gespielt, als der Underdog das erste Mal im Strafraum der Blaugrana erscheint. Eine Flanke von links, am langen Pfosten steht Mario Martinez Rubio, kurz Mario. Volley mit der Innenseite, stramm ins lange Eck, eins zu null, Ekstase. Barcelona rennt an, doch es bleibt bei diesem Ergebnis. Willkommen in der Liga, Pep.
Alles auf Anfang
Heute jährt sich das Debüt Guardiolas zum zehnten Mal. An dieses Spiel und dem damit verbundenen Fehlstart erinnern sich jedoch nur noch Wikipedia und Youtube sehr vage.
Der Grund dafür? Nach einem Unentschieden im nachfolgenden Spiel gegen Racing Santander hatte der neuformierte FC Barcelona seine neue Identität gefunden. Es folgten 21 Ligaspiele ohne Niederlage in Folge.
Wenige Monate später hatte Pep Guardiola das Triple gewonnen – nachdem er gerade einmal neun Monate zuvor von der Reservemannschaft Barcelonas zum Cheftrainer der Erstvertretung “befördert” worden war.
Neun Monate, nachdem der große FC Barcelona in der Liga nur dritter wurde, und sowohl in der Champions League, als auch im Pokal bereits im Halbfinale ausschied. Eine Entwicklung, die als Ansage an den internationalen Fußball verstanden werden konnte.
Bei seinem Amtsantritt machte sich Guardiola gleich Freunde. Vereinsikonen sind für junge, “neue” Trainer oft ein heißes Eisen. Selbst wenn sie nicht zur Philosophie des jeweiligen Übungsleiters passen, ist es der Stellenwert der Spieler, der eine Trennung beider Parteien nur sehr schwer möglich macht.
Mit Deco und Ronaldinho hatte auch der FC Barcelona im Sommer 2008 solche Ikonen in seinen Reihen. Beide Spieler galten als geniale Spielmacher, als Virtuosen am Ball. Guardiola sah das jedoch anders.
Das Defensivverhalten beider Spieler missfiel dem Neuzugang auf der Trainerbank. Beide verließen den Verein in dem Sommer, in dem Pep das Heft des Handelns in die Hand nahm. Die Fußballwelt merkte schnell: Dieser Trainer macht keine halben Sachen.
Er lebt vollkommene Professionalität vor, diese verlangt er auch von seinen Spielern. Ernährt sich ein Spieler nicht gesund, wird er in das Büro des Chefs zitiert. Investiert die Mannschaft im Training nicht diegleiche Intensität wie in einem Pflichtspiel, wird die Übungsform wiederholt.
Immer, und immer wieder. “One more time” wird zu einem Satz, den Spieler des FC Barcelona in Zukunft öfter hören werden.
Die Wiederbelebung des Gegenpressings
Doch nicht nur neben dem Platz änderte Guardiola die Herangehensweise Barcelonas. Zwar blieb es auf dem Papier bei der cruyff‘schen 4-3-3 Formation, doch wie Pep später verlauten ließ, seien diese Spielereien nur “Telefonnummern” für ihn.
Der Spanier hatte schon zum Ende seiner Zeit als aktiver Spieler an seiner Spielidee gefeilt, nun setzte er diese als Trainer um. Die Raumaufteilung seines holländischen Mentors Johann Cruyff entwickelte Guardiola in seiner Trainerkarriere weiter: Der Platz wurde in 20 Zonen aufgeteilt, eine optimale Besetzung dieser Räume sollte den maximalen Erfolg garantieren. Auf den fünf vertikalen Linien sollten sich maximal zwei Spieler, auf den horizontalen Begrenzungen höchstens drei Spieler gleichzeitig aufhalten. Jede Zone sollte nur von maximal einem Spieler besetzt sein.
So ergibt sich eine für Guardiola perfekte Raumaufteilung, ein breit gefächertes Netz auf dem Platz, durch welches der Ball wandelt. Der Ballvortrag beginnt dabei mit einem abkippenden Sechser, der das Spiel, wenn möglich, mit einem Pass auf die offensiven Mittelfeldspieler eröffnet.
Das ist das Ziel in Guardiolas Spielaufbau. Zunächst nahm Yaya Touré die Rolle des Zielspielers in Barcelonas erster Linie ein, später war es Sergio Busquets. Davor wirbelte das kongeniale Duo Xavi und Iniesta.
Diese leiteten das Offensivspiel Barcas, welches den Gegner zunächst auf eine Seite locken sollte, um den Angriff dann auf der anderen zu vollenden. Dabei spielte Barcelona jedoch nicht überwiegend über die Flügel. Das zentrale Mittelfeld sollte den Ball durch die Reihen des Gegners lenken, die beiden offensiven Mittelfeldspieler sowie Lionel Messi hielten sich dabei zumeist in den Halbräumen auf. Offenbart die gegnerische Mannschaft durch das ständige Verschieben Lücken, nutzten die Spielmacher Barcas dies durch einen Pass in die Tiefe auf die Außenstürmer aus.
Um dieses Spiel überhaupt erst zu ermöglichen, sollte jeder Spieler neben der bereits erwähnten Raumaufteilung stets zwei, wenn nicht sogar noch mehr Anspielstationen vorfinden. Dazu positionieren sich die Mitspieler in Dreiecksformationen um den ballführenden Spieler herum. So entstand ein Netz des Ballbesitzes, das dem Gegner äußerst sauberes Verschieben gegen den Ball abverlangte.
Gelang dies der verteidigenden Mannschaft und Barcelona verlor den Ball, folgte der zweite Schritt dieser Raumaufteilung. Guardiolas Mannschaften richten sich stets so auf dem Platz aus, dass sie in jeder Situation des Spiels einen Vorteil haben.
So sollte auch bei einem Ballverlust sofort Überzahl in Ballnähe hergestellt werden, um den Ballbesitz spätestens nach vier Sekunden zurückerlangt zu haben. Eine Neuheit im Weltfußball, die in der Triple-Saison 2008/09 jeden Gegner vor Probleme stellte.
Der FC Barcelona erdrückte den Gegner, agierte wie eine Spinne, welche ihr Opfer in ihrem Netz immer weiter einspannt, ohne dass eine Chance auf Entlastung entsteht.
14 Titel später: Guardiolas Vermächtnis
Dabei lag nicht nur ein Hauch von Cruyff in der Luft, es war die Fortführung seines Werkes. Guardiola sah im Holländer seinen Meister, der ihm als aktiver Spieler seine Spielidee mitgab. Es war die Fortführung der Identität Barcas, die Weiterentwicklung des totalen Fußballs.
Noch heute profitiert der FC Barcelona von dieser Saison und der Entscheidung, Pep Guardiola zum Cheftrainer zu befördern. Der dünne, schmächtige Mittelfeldspieler von damals bescherte dem Club nicht nur 14 Titel und wurde damit zum erfolgreichsten Trainer der Vereinsgeschichte.
Unter ihm hatte Lionel Messi als hängende Spitze seinen Durchbruch (diese Entscheidung, den Argentinier als falsche Neun aufzustellen, war übrigens ebenfalls eine Spielerei Guardiolas. Ursprünglich wollte Pep so den Erzrivalen Real Madrid bezwingen – das Spiel endete mit 6:2 für die Blaugrana.)
Er verabreichte Barcelona eine neue Identität, von der der Verein noch jahrelang profitieren sollte. Seinen Nachfolgern vermachte er jedoch folgendes: eine Lücke, die beinah unmöglich zu füllen war.
Tito Vilanova, Gerardo Martino, Luis Enrique. Alle hatten sie das Damoklesschwert der Erfolge von Pep Guardiola über sich, alle spürten sie den Geist dieser vergangenen Tage.
Seit nunmehr einem Jahr hat Ernesto Valverde das Heft des Handelns in der Hand und versucht sich daran, diese riesen Fußstapfen auszufüllen. Mit dem Gewinn des Doubles im vergangenen Jahr wandelt dieser zumindest ein wenig auf den Spuren von Josep Guardiola.