Budapest, 12. November 2020. Im Play Off-Spiel zur EM-Qualifikation stehen sich Island und Ungarn gegenüber. Nach engen und umkämpften, aber wenig hochklassigen 90 Minuten steht ein 1:1 auf der Anzeigetafel.
Beide Teams schienen sich mit einer Verlängerung mehr oder weniger abgefunden zu haben, als das ungarische Supertalent Dominik Szoboszlai den Ball in der Nähe der Mittellinie gewann und zu einem Sololauf über den halben Platz ansetzte.
Aus ca. 20 Metern brachte er den Ball im Tor unter. Ungarn war qualifiziert. Für die Magyaren ist es erst die zweite Teilnahme an einer Endrunde eines großen Turniers seit 1986.
Mächtig stolz war vor allem die Person, die sich als Vater des Erfolgs sieht: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán.
“Football First”
Für viele ist der ungarische Fußball gleichbedeutend mit der goldenen Elf um Ferenc Puskás, Nándor Hidegkuti oder Sándor Kocsis, die in den 1950er Jahren neue Maßstäbe setzte und noch heute zu den einflussreichsten Mannschaften aller Zeiten zählt.
Als das Team im Zuge des Volksaufstandes 1956 zerfiel, stürzte der ungarische Fußball in die Bedeutungslosigkeit. Neben den ausbleibenden internationalen Erfolgen, verlor auch die nationale Liga immer mehr an Aufmerksamkeit, obwohl der Fußball bis heute die beliebteste Sportart Ungarns ist.
Viktor Orbán, Ministerpräsident Ungarns und Vorsitzender der rechtspopulistischen Partei Fidesz, trat 2010 sein Amt mit dem erklärten Ziel an, den ungarischen Fußball zurück zu altem Glanz zu führen.
Nach Orbáns Vorstellung fehlt dem Land die kulturelle Bedeutung, die man während der kommunistischen Herrschaft vorweisen konnte. Laut János Kele, einem ungarischen Sportjournalisten, bestehe ein Eckpfeiler seiner Politik daraus, „ständig herauszuheben, dass die Ungarn dazu bestimmt sind, Großartiges im Leben zu leisten.“
Sportliche Erfolge und die Ausrichtung sportlicher Großereignisse sollen dazu beitragen, dass Ungarn einen festen Platz in der internationalen Sportwelt erhält. Der Sport nimmt als soft power eine ähnlich zentrale politische Rolle ein, wie man es u.a. aus dem Sportswashing reicher Golfstaaten bereits kennt.
Um den nationalen Fußball an die Weltspitze zurückzuführen setzt Orbán – im Stile Donald Trumps – auf eine „Football First“-Politik und investierte seit 2010 mehrere Milliarden in den Sport. Dabei geht es jedoch nicht um eine selbstlose Hilfe für den Volkssport Fußball, sondern vor allem um Macht.
Der kleine Ort Felcsút in der Nähe von Budapest hat nur knapp 1500 Einwohner, zu denen jedoch der bekannteste Ungar zählt. Regierungschef Viktor Orbán verbrachte einen Teil seiner Jugend in Felcsút und besitzt noch immer ein kleines Wochenendhaus dort.
Viel beachtlicher als dieses kleine Haus in der Nähe des Ortsausgangs ist jedoch ein architektonisch beeindruckendes Stadion, das quasi direkt in seinem Vorgarten steht – Orbáns eigene Neverland-Ranch. Die Pancho Arena, in die alle Einwohner Felcsúts zweimal reinpassen würden, wurde 2014 eröffnet und ist die Heimstädte des Puskás Akadémia FC.
Der Verein wurde 2005 von Orbán und seinem Jugendfreund Lőrinc Mészáros gegründet. Das öffentliche Interesse an diesem war zu Beginn noch mehr als überschaubar. Das änderte sich erst, als man eine Kooperation mit dem ungarischen Top-Verein Fehérvár FC einging, bei dem Orbán selbst in seiner Jugend spielte.
Mittlerweile ist man in der obersten Spielklasse Ungarns etabliert – das Stadion ist aber trotzdem kaum gefüllt.
Finanziert wurde das ganze Konstrukt nicht nur durch den Regierungschef oder Mészáros, sondern hauptsächlich über Staatsgelder und die EU.
Fußball in Ungarn: Vetternwirtschaft ist an der Tagesordnung
Seit seinem Amtsantritt 2010 ist Viktor Orbán zu einem der machtvollsten Staatsoberhäupter Europas aufgestiegen. Sämtliche ehemals unabhängige Institutionen, wie das Verfassungsgericht, die Nationalbank oder nahezu alle Medien sind mit seinen Vertrauten besetzt.
Auch der nationale Fußball ist durchzogen von „Freunden“ des Regierungschefs. Sándor Csányi, Präsident der OTP Bank, die zugleich Hauptsponsor der ersten ungarischen Liga ist, ist ein enger Freund Orbáns und zugleich Präsident des ungarischen Fußballverbandes MLSZ.
Mitglieder eines Ferencváros-Fanclubs, der Verbindungen in die rechte Hooligan-Szene hat, treten bei Fidesz-Veranstaltungen als Ordner auf. Von den zwölf Erstligisten stehen mindestens zehn Vereins-Chefs Fidesz nahe bzw. werden sogar von Parteimitgliedern geführt. In der zweiten Liga ergibt sich ein ähnliches Bild.
Seit 2010 wurden mehrere Milliarden Euro für den Fußball ausgegeben und Unternehmen zu Investitionen in den Sport angeregt.
Die gesamte Fußballinfrastruktur des Landes wurde stark verbessert. Unzählige Stadien, Sportplätze und Trainingsgelände wurden renoviert oder neugebaut. Dadurch profitiert der Breitensport, da wieder mehr Kinder Fußball spielen wollen, weil sie nicht mehr auf besseren Kuhwiesen trainieren müssen.
Gleichzeitig ist ein exzessives System der Vetternwirtschaft an der Tagesordnung. Vereine, die der Regierungspartei Fidesz nahestehen, werden besonders bevorzugt.
Ausgerechnet das Supertalent Dominik Szoboszlai, der die neue goldene Generation Ungarns anführen soll, wechselte bereits als 16-Jähriger in die Jugendabteilung Red Bull Salzburgs. Zuvor wurde er hauptsächlich durch seinen Vater ausgebildet und nicht in den Akademien der ungarischen Profivereine. Szoboszlai ist daher wohl kaum ein Beispiel dafür, dass die Investitionen schon Früchte tragen würden.
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Durch ein von Orbán 2011 eingeführtes höchst umstrittenes Gesetz (TAO), das Korruption, Vetternwirtschaft und Einflussnahmen jeglicher Art Tür und Tor öffnet, versickern jegliche Investitionen in den Vereinen. Investitionen in den Zuschauersport sind demnach von der staatlichen Besteuerung befreit.
Dadurch landen Millionen Euro im Fußball und den Taschen privater Investoren, die eigentlich als Steuergelder in wichtige und vernachlässigte Bereiche wie dem Gesundheits- oder Bildungssektor hätten fließen können.
Immer mehr hoch qualifizierte Arbeitskräfte verlassen das Land wegen geringen Löhnen und mangelhaften Arbeitsbedingungen. Gerade im Zuge der Corona-Pandemie kam das marode Gesundheitssystem an seine Grenzen.
Orbán stellt trotzdem weiterhin den Sport über alles: „Ich bin davon überzeugt, dass für die Kindererziehung, die Pflege und den Zusammenhalt der Familie sowie die Gesundheit, der Sport der wichtigste Bereich des heutigen Ungarns ist.“
Orbán nutzt das TAO, um ein Netzwerk aus Oligarchen, Unternehmern, Parteifreunden und Verbündeten um sich herum aufzubauen, das ihnen sowohl finanzielle Gewinne garantiert als auch ihre eigene Machtposition sichert.
Seinen Kumpeln schiebt er überteuerte, von der EU finanzierte Bauprojekte zu. Die dadurch generierten Gewinne stecken diese dann steuerfrei in ihre Fußballvereine, die daraufhin die gleichen Baufirmen mit dem Bau von Stadien, Trainingsplätzen oder anderen Sportanlagen beauftragen. Direkte staatliche Zuschüsse müssen die Vereine ebenfalls nutzen, um diese Unternehmen zu beauftragen.
Das Ausmaß dieser „Spenden“ ist zudem nicht öffentlich einsehbar, da die Regierung diese als Steuergeheimnis einstuft. Zwar urteilte der oberste ungarische Gerichtshof 2016, dass die Spenden offen gelegt werden müssen, in der Praxis sieht dies aber oft noch immer anders aus.
Fährt man jedoch mit offenen Augen durch das Land, wird man schnell feststellen, dass ganz Ungarn von sichtbaren Beispielen dieser Praxis gespickt ist. Während Krankenhäuser und das gesamte Gesundheitssystem verkümmert, stehen an jeder Ecke glänzende neue Stadien.
“Gott, Glück und Viktor Orbán”
Kaum ein Verein, der in den letzten Jahren in der ungarischen ersten Liga gespielt hat, hat kein neues oder renoviertes Stadion erhalten. Auch ein neues Nationalstadion, die hochmoderne ca. 65.000 Plätze fassende Puskás Arena, wurde gebaut. Trotz der großen Finanzspritzen und der neuen Stadien bleiben die Spiele nur spärlich besucht.
Die Vereine und Sportjournalisten werden nicht müde zu betonen, wie dankbar sie für die staatliche Unterstützung sind. Laut George F. Hemingway, dem ehemaligen Honvéd-Präsidenten, wäre ohne Orbán „der ungarische Fußball tot.“ „Viktor Orbán wants to ‚make Hungarian football great again‘“, so György Szöllősi, Chefredakteur bei Nemzeti Sport, der größten Fußballzeitschrift Ungarns und Orbáns Fußball-Sprachrohr.
Puskás Akádemia und ihr Präsident Lőrinc Mészáros gehören selbstverständlich zu den größten Profiteuren des staatlich verordneten Fußballbooms.
Mészáros machte sein erstes Geld mit einer Gasinstallations-Firma. Als er von Orbán den neugegründeten Verein aus Felcsút erhielt, stand seine Firma kurz vor dem Bankrott. Seitdem stieg sein Vermögen rasch an, sodass er mittlerweile laut Forbes Magazin die reichste Person Ungarns ist.
Mészáros‘ Firmen gehören zu den größten Nutznießern staatlicher Aufträge sämtlicher Art. Seine ehemalige Gasfirma wurde beispielsweise mit dem Bau einer Brücke über die Donau beauftragt und war ebenfalls für den Bau der Pancho Arena verantwortlich.
Mészáros, von 2011 bis 2018 Bürgermeister Felcsúts, war für den Neubau des Kernkraftwerks Paks und damit einem der größten staatlichen Bauaufträge der ungarischen Geschichte verantwortlich.
Seine Sportmarke 2Rule schloss nur kurz nach der Gründung und innerhalb kürzester Zeit Ausrüsterverträge mit mehreren ungarischen Profivereinen ab.
Zudem gehören ihm nahezu alle großen Medienhäuser des Landes, die selbstverständlich selten kritisch über die Regierung berichten. Unabhängigen und kritischen Medien wird der Wettbewerb so sehr erschwert, dass sie sich vom Markt zurückziehen. Laut Mészáros waren es „Gott, Glück und Viktor Orbán“, die zu seinem Reichtum geführt haben.
Orbáns Fußball-Abenteuer in Slowenien
Orbáns Einfluss reißt aber nicht an der Staatsgrenze ab. Gebiete in Nachbarstaaten, die über eine bedeutende ungarische Minderheit verfügen, werden ebenfalls unterstützt.
Für den Bau einer Fußball Akademie samt bilingualem Internat in der slowenischen Kleinstadt Lendava spendete die ungarische Regierung Millionen. Die Stadt gilt als das kulturelle Zentrum der ungarischen Minderheit in Slowenien.
Neben staatlicher Unterstützung erhält der lokale Verein NK Nafta 1903 zusätzliche private Finanzspritzen, beispielsweise durch den Geschäftsmann Gábor Végh, der Verbindungen zu Orbán hat und für viel Geld Hauptsponsor des slowenischen Zweitligisten wurde. Végh ist zudem Präsident des ungarischen Erstligisten Zalaegerszegi TE und hat über seine Firma eine große Anzahl an neuen Sportplätzen in Ungarn gebaut.
Die Investitionen in den slowenischen Fußball sind Teil einer großungarischen Politik Orbáns, der seit seinem Amtsantritt die Verbindungen zu den ungarischen Minderheiten in anderen Staaten sucht. „Wir machen es für die Kinder … auf den Gebieten, in denen die Ungarn leben.“
Er brachte 2011 ein Gesetz durch, das im Ausland lebende Ungarn die Möglichkeit gibt, die ungarische Staatsbürgerschaft beantragen zu können und zur Wahl zugelassen zu werden. Orbán sicherte sich dadurch ca. 200.000 exklusive Fidesz-Wähler, die bei der Parlamentswahl 2014 ihren Anteil zum erneuten Wahlerfolg der Rechtspopulisten beitrugen.
Budapest – Liebling der UEFA
Orbán will Budapest als eine ähnliche Hauptstadt des internationalen Sports etablieren, wie es Katar mit Doha bereits geschafft hat. Die Sportverbände lassen sich bereitwillig für solche Geschäfte ausnutzen. Ungarn nutzt jede Chance, um sich als wertvoller und starker strategischer Partner der UEFA zu präsentieren.
Csányi, MLSZ-Präsident und Mitglied des UEFA-Exekutivkomitees ist gut mit UEFA-Präsident Aleksander Čeferin befreundet, der auch bei der Einweihung der Puskás Arena anwesend war.
Ungarn ist nicht nur gemeinsam mit Slowenien Gastgeber der U21-Europameisterschaft 2021 sondern auch das Europa League Finale 2023 wird in Budapest ausgetragen werden. Außerdem wurde der Super Cup 2020 aufgrund der Corona-Pandemie nach Budapest verlegt, wo ca. 20.000 Zuschauer zugelassen waren.
Als im Februar mehrere Spiele des Champions League-Achtelfinales vor einer Absage standen, sprang Budapest ein und ließ vier Spiele trotz höchster Infektionszahlen in der Puskás Arena stattfinden. Nach den Spielen löcherten die ungarischen Journalisten Trainer und Spieler mit Suggestivfragen zur Organisation und Infrastruktur in Budapest.
Orbáns Regierung wollte noch lange nach dem weltweiten Ausbruch des Coronavirus‘ das öffentliche Leben wenig oder überhaupt nicht einschränken. Die oberste ungarische Liga gehörte zu den wenigen europäischen Ligen, die ihre Saison nach dem Re-Start im Mai 2020 mit einer eingeschränkten Zuschauerzahl statt unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu Ende spielte.
Orbáns aggressive Sportpolitik beschränkt sich nicht nur auf den Fußball. Zahlreiche Sportturniere wie der Fechten-Weltcup werden in Budapest ausgetragen.
Die Regierung hat besonders die olympischen Spiele im Blick. Eine Bewerbung für die Sommerspiele 2024 war gescheitert, nachdem die Kampagne „Nolimpia“ über 266.000 Unterschriften sammelte und dadurch eine Abstimmung erzwang. Fidesz zog die Bewerbung aus Angst vor einer Niederlage bei einem Referendum zurück und visiert nun die Olympischen Spiele 2036 an.
Für die diesjährigen Spiele in Tokio hat Ungarn bereits ein Impfprogramm für die fast 900 teilnehmenden Athleten beschlossen.
Die Fußballnationalmannschaft konnte bislang nicht merklich von den Investitionen profitieren. Das Erreichen der EM-Endrunde ist für die Mannschaft von Trainer Marco Rossi bereits ein großer Erfolg.
Budapest wird Spielort dreier Gruppenspiele und eines Achtelfinales sein und ist der einzige Standort, der eine Komplettauslastung des Stadions anstrebt. Ungarn wird alles geben, um sich als schillernder und perfekter Gastgeber zu präsentieren.
Dominik Szoboszlai wird bei der EM nicht dabei sein. Der Leipziger hat sich nicht mehr rechtzeitig von seiner Adduktorenverletzung erholen können. Ohne ihr Mittelfeld-Juwel hat Ungarn kaum Chancen auf das Weiterkommen gegen die fußballerischen Großmächte Portugal, Frankreich und Deutschland.
Für das System, das Victor Orbán im ungarischen Fußball aufgebaut hat, spielt das aber kaum eine Rolle. Es wird weiterlaufen und helfen den Fußballkönig an der Macht zu halten, ohne, dass man große sportliche Fortschritte des einstigen WM-Finalisten erwarten kann.
(Titelbild: © IMAGO Images)
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