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Zweifeln erlaubt: Die erste Schwächephase unter Simeone

Unter Trainer Diego Simeone hat sich Atlético Madrid in vergangenen Spielzeiten vom Krisenklub bis an die europäische Spitze vorgekämpft. Nach Jahren des Fortschritts droht den Colchoneros nun erstmals Stillstand, wenn auch auf hohem Niveau.

Am Samstag ist es wieder soweit, im spanischen Hauptstadtderby gastiert Atlético Madrid im Estadio Santiago Bernabéu, der Festung von Stadtrivale Real. Jahrelang waren sowohl die Heimspiele, als auch die Besuche im Viertel Chamartín für die Rojiblancos ein aussichtsloses Unterfangen.

Es hagelte Niederlagen, mal deutlich, häufig knapp, aber den Platz verließ man in aller Regel als Verlierer. 14 Jahre und 25 Spiele musste Atlético auf einen Sieg gegen den Lokalrivalen warten, bis es am 17. Mai 2013 endlich wieder soweit war.

Im spanischen Pokalendspiel behielt man mit einem 2:1-Erfolg nach Verlängerung die Oberhand und feierte, ausgerechnet im Bernabéu, das Ende der langen Durststrecke.

Seit jenem Freitag Abend hat sich bei Atlético eine Menge verändert. Finanziell geht es stetig bergauf, die Einnahmen steigen und mit ihnen die Möglichkeit, eine auf höchstem Niveau konkurrenzfähige Mannschaft zusammenzustellen.

Im Jahr nach dem gewonnenen Pokalfinale feierte man die spanische Meisterschaft und den Einzug ins Finale der Champions League, welches man wiederum durch ein Gegentor in letzter Minute gegen Real Madrid aus der Hand gab.

Namenhafte Abgänge bei Atletico

Mit Radamel Falcao, Diego Costa und Arda Turan verließen immer wieder große Namen den Klub, wenngleich der größte Star weiterhin in Diensten Atléticos steht: Trainer Diego Simeone.

Der emotionale Argentinier ist ohne Frage das Gesicht des Wandels, den Atlético in gut vier Jahren vollzogen hat. “Partido a partido“, „von Spiel zu Spiel“, pflegt der 45-Jährige stets zu denken.

Dennoch hat er es nebenbei geschafft, den Blick über die Herausforderung der jeweils folgenden Woche hinweg zu heben und das Fundament für eine langfristige Entwicklung zu legen.

Er ist dank seiner gelungenen Projektarbeit in Madrid inzwischen als einer der fähigsten Übungsleiter anerkannt und wird, in ähnlicher Regelmäßigkeit wie seine Stars auf dem Rasen, mit internationalen Topvereinen in Verbindung gebracht.

Die Kunst von Simeones Arbeit besteht vornehmlich daraus, dass er nicht zwanghaft nach dem schönen Spiel strebt. Für ihn muss es nicht immer Tiki Taka sein, streng genommen gibt es das bei Atlético nie.

Es braucht auch keine zwei Drittel Ballbesitz und auch die gibt es praktisch nicht. Die Mannschaft verfügt über eigene Waffen und die reichen vereinfacht ausgedrückt dafür aus, mit einem Tor mehr als der Gegner vom Feld zu gehen.

„Männerfußball“ nannte Simeone den Stil seiner Truppe einst und wer die Spiele selbst nur am Rande verfolgte, der wollte ihm nicht wirklich widersprechen.

Die Erkenntnis über Atléticos Stärke lässt sich in erster Linie auf die defensive Stabilität herunterbrechen, die seit dem Amtsantritt im Dezember 2011 als das Grundelement des Erfolgs betrachtet werden darf.

In der laufenden Saison gab es in 25 Ligaspielen gerade einmal elf Gegentreffer, 16 Partien wurden nach dem Stevens’schen Grundsatz mit stehender Null beendet.

In den vorigen beiden Spielzeiten blieb man jeweils unter der Marke von 30 Gegentreffern und konnte es sich dadurch erlauben, ein wenig sparsamer mit dem Toreschießen umzugehen als die Konkurrenz.

In dieser Saison hat sich die Sparsamkeit vor dem gegnerischen Tor aber noch einmal verschärft, drastisch sogar. Gerade einmal 35 Treffer sind es derzeit, Barcelona und Madrid warten im Vergleich mit 67 und 71 Toren auf.

Dass Atlético damit in der Tabelle dennoch vor dem Stadtrivalen steht, ist eine außergewöhnliche Leistung, auch wenn sie nicht mehr jeden zufrieden zu stimmen scheint.

Der Verlauf der aktuellen Spielzeit ist ein großer Erfolg im Verhältnis zu den vorhandenen Möglichkeiten, doch nachdem es zuvor ständig bergauf ging, scheint momentan ein Scheitelpunkt erreicht zu sein.


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Grundsätzlich muss das nicht einmal als negativ betrachtet werden. Sich auf einem derart hohen Level zu etablieren ist eine große Leistung und wird im Schatten voriger Erfolge vielleicht nicht einmal ausreichend gewürdigt.

Allerdings liegt nicht viel zwischen Stillstand und Rückschritt, sodass ein hohes Anspruchsdenken zur Schärfung der Sinne keinesfalls die falsche Herangehensweise darstellen muss.

Atléticos Spielstil scheint gerade in offensiver Hinsicht ein wenig anfälliger für das Fehlen neuer Ideen, da er vergleichsweise einfach angelegt ist und über keinen solchen Variantenreichtum verfügt, wie dies bei Konkurrenten in der internationalen Spitze der Fall ist.

Bei Ballgewinnen starten Gegenangriffe aufgrund der tiefen Ausrichtung zweier Viererketten nicht selten über ein langes Anspiel in die Sturmspitze, wo das Spielgerät gegen mehrere Gegenspieler behauptet werden muss, ehe ergänzende Anspielstationen aus den weiteren Mannschaftsteilen nachrücken.

Eine gezielt lang andauernde Ballzirkulation und ein daraus resultierendes geduldiges Freispielen aus der eigenen Hälfte ist hingegen deutlich seltener zu erkennen.

Dementsprechend hängt vieles von den Qualitäten der Angreifer ab, die die Bälle teils isoliert und unter Druck sichern und im Anschluss mit Auge verteilen müssen.

Dabei muss es sich nicht zwingend um einen Prellbock wie Falcao oder Costa handeln, Antoine Griezmann hat bereits zu Genüge nachgewiesen, dass sich auch der filigranere Typ Stürmer im System der Rojiblancos voll entfalten kann.

Simeone macht keinen Hehl daraus, das der schnellste Weg zum gegnerischen Tor für ihn oftmals der sinnvollste ist: „Ob nun richtig oder falsch, ich hatte als Spieler immer ein Konzept, das ich auch als Trainer besonders meinen Mittelfeldspielern eintrichtern möchte.

Die erste Option ist entweder der Mittelstürmer oder der beste Spieler der Mannschaft.

Es ist klar, dass es manchmal keine andere Möglichkeit gibt, als das Spiel breit zu machen, aber der erste Gedanke beim Angriff sollte immer an die besten Spieler angelehnt sein, an den Torjäger und denjenigen, der dein Spiel besser macht.“ Allerdings verkannte auch er nicht die Gefahr einer schleichenden Abnutzung des angestrebten Stils.

Entsprechend war man sich bei Atlético vor der Saison durchaus im Klaren darüber, neue Akzente einfließen lassen zu müssen. So wurde der Kader im Sommer kräftig umgekrempelt, mit dem personellen Umbruch sollte die Verwirklichung einer veränderten Spielidee einhergehen.

Das bevorzugte 4-4-2-System, die kollektiv aufreibende Arbeit gegen den Ball und der auf einem ausgefeilten Umschaltspiel basierende Offensivstil sollten kontinuierlich in den Hintergrund treten.

Die neue Mission trug das Gewand eines 4-3-3 mit vermehrten Spielanteilen, es sollte mehr Variabilität erlauben, mehr Kreativität im Zentrum und, als Relikt des schnörkellosen Vertikalspiels, einen hochklassigen Dreizack im Angriff mit sich bringen.

Doch auch ein gutes halbes Jahr nach Beginn des angestrebten Stilwandels ist davon deutlich weniger zu sehen als erhofft. Die Mannschaft spielt weiterhin häufig im alten Korsett und zeigt sich auch im Hinblick auf die erwünschten neuen Tugenden zurückhaltend.

Umstellungen wie eine zentrale Unterbringung von Impulsgeber Koke oder die passende Einbindung von Rückkehrer Óliver Torres sind noch nicht gelungen. Jackson Martínez, im Sommer als neue Referenz für das Sturmzentrum verpflichtet, verließ den Verein nach einer enttäuschenden Hinrunde bereits im Winter wieder.

Schon in den ersten Wochen war deutlich erkennbar, dass der vermutete Umbruch nicht derart schnell vonstatten gehen würde, wie allgemein erwartet.

Simeone wählte speziell im Mittelfeld vornehmlich die konservative Variante und entschied sich dabei in aller Regel für eine zentrale Achse aus den Routiniers Tiago und Gabi, die als Duo gegen den Ball zwar enorme Stabilität garantierten, in der Gegenrichtung aber nur schwer mit verstärkter Eigeninitiative zu vereinen waren.

Entsprechend erinnerte Atlético anfänglich stark an die Version der vergangenen Jahre, neue Einflüsse waren kaum auszumachen.

Im zentralen Mittelfeld, so schien es, lag der Schlüssel für ein noch besseres Atlético, so wie es viele bereits zu Saisonbeginn erwartet hatten. Doch genau in diesem Bereich, seinem einstigen Hoheitsgebiet als Spieler, vermeidet Simeone weiterhin jegliches Risiko.

„Im Mittelfeld zu spielen ist sehr schwer. Koke hat damit noch seine Probleme und schauen Sie, ich bin der erste, der ihn dort spielen sehen will.“

Erst nachdem sich Tiago Ende November schwer verletzte, war er zu einem Umdenken gezwungen und entschied sich seitdem vornehmlich für Saúl, ähnlich wie Koke zuvor oftmals auf der ungeliebten Außenbahn eingesetzt.

Zwar macht der 21-Jährige, der nicht umsonst als eines der größten spanischen Talente gilt, seine Sache an der Seite von Kapitän Gabi ordentlich, doch die Zwischenbilanz nach drei Monaten zeigt auch, dass Atléticos mangelnde Vielseitigkeit eben nicht nur in einer möglicherweise zu vorsichtigen Besetzung der Mittelfeldzentrale begründet lag.

Das bestärkt zum einen Simeone in seiner Ansicht sowie im recht behutsamen Vorgehen bei der Umbesetzung der zentralen Achse. Im Gegenzug lässt es jedoch auch die Frage zu, woran es denn nun genau hapert bei den Colchoneros.

Immerhin hat das Spiel mit Flügelstürmer Yannick Ferreira Carrasco ein Element gewonnen, das immer besser zum Tragen kommt.

Der junge Belgier ist der einzige klassische Flügelstürmer im Kader, der mit enormer Geschwindigkeit die linke Außenbahn beackert und, anders als Koke, Óliver oder Saúl, auch das Gros seiner Aktionen nahe der Seitenlinie verzeichnet.

Die flügellastigen Vorstöße des Neuzugangs sind streng genommen das einzige Element, das Atlético in dieser Spielzeit neu in sein Repertoire aufgenommen hat.

Nicht ganz überraschend verkamen die jüngsten beiden Spiele, in denen Ferreira Carrasco wegen einer Knöchelverletzung fehlte, zu zwei uninspirierten Nullnummern gegen Villarreal in der Liga und in der Champions League in Eindhoven.

Wenn aus dem Spiel nichts ging, war in den Vorjahren zumindest auf Standards Verlass. Es gab Zeiten, da gelang beinahe in jeder Begegnung ein Treffer in Folge eines Eckstoßes.

Jeder Gegner wusste um Atléticos Stärken bei ruhenden Bällen, doch ein Gegenrezept wollte sich einfach nicht finden lassen. In dieser Spielzeit hat sich die einstige Stärke zu einem weiteren Problem entwickelt.

Nicht, dass die verteidigenden Mannschaften nun deutlich besser organisiert wären, die meisten Eckbälle werden derart uninspiriert ins Getümmel getreten, dass aus ihnen gar nichts mehr entstehen kann. Auch das ist ein Grund, warum die aktuelle Bilanz satte 15 Treffer weniger aufzeigt als jene 50 zum gleichen Zeitpunkt des Vorjahres.

Angesichts einer inzwischen mehr als vierjährigen Zusammenarbeit zwischen Simeone und Atlético, den kolportierten Interessenten für den Argentinier sowie der aktuellen kreativen Schaffenspause mag sich die Frage aufdrängen, welche gemeinsame Zukunft beide Parteien noch haben.

Doch auch angesichts eines noch bis 2020 gültigen Vertrags des Trainers gehen vorschnelle Schlüsse definitiv in die falsche Richtung.

Nicht nur, dass Simeone den Verein erst auf sein aktuelles Level geführt hat und ihn dort halten kann, er macht trotz der aktuellen Defizite absolut nicht den Eindruck, der Herausforderung nicht mehr gewachsen zu sein.

Und weder er, noch der Verein haben bisher auch nur die geringste Tendenz vermittelt, die gemeinsame Beziehung in absehbarer Zeit aufgeben zu wollen.


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Auch sollte das Vorgehen in Madrid stets mit einem gebotenen Maß an Verhältnismäßigkeit betrachtet werden.

Wie wenig Esprit die Mannschaft in gewissen Phasen auch versprühen mag, wie torungefährlich sie in einigen Momenten wirkt: Atlético liegt nach zwei Saisondritteln auf Platz zwei der Primera División und hat in der Champions League alle Trümpfe in der Hand.

Die defensive Stabilität ist unverändert beeindruckend, die Zahlen lesen sich in dieser Hinsicht noch besser als in vergangenen Jahren.

Eine solche Bestandsaufnahme zum aktuellen Zeitpunkt ist in Anbetracht der vorhandenen Möglichkeiten ein Ritterschlag für das Funktionieren des gesamten Vereins und damit auch für die Arbeit seiner sportlichen Verantwortlichen.

Anders als in vorigen Jahren macht es nun allerdings zum ersten Mal den Eindruck, als würde Simeone nicht mehr das Maximum aus dem vorhandenen Spielermaterial herausholen.

Der Kader wirkt in der Offensive stärker besetzt als noch in vergangenen Jahren, doch auf dem Platz wurde die Mannschaft den gestiegenen Ansprüchen noch nicht gerecht.

Die Erwartungen hinsichtlich des sportlichen Abschneidens scheint Atlético auch in diesem Jahr wieder erfüllen zu können, doch die Art und Weise wirft nach den bisherigen Eindrücken gewisse Zweifel auf.

Entsprechend dieser Einschätzung kommt man nicht um den Eindruck umhin, dass es bei den Rojiblancos durchaus Motive zur Unzufriedenheit mit dem Trainer gäbe. Allerdings hat sich Simeone mit seinen bisherigen Verdiensten sowie den weiterhin positiven Resultaten ausreichend Vertrauen erarbeitet, um zunächst einmal in Ruhe weiterarbeiten zu können.

Vielleicht ist die Mannschaft tatsächlich in der Lage, einen frischen und ansehnlicheren Fußball zu spielen. Doch könnte man damit wirklich besser mit Tabellenführer Barcelona Schritt halten?

Würden gerade in Topspielen nicht die Chancen schwinden, wenn Atlético plötzlich mutig mitspielen, statt den Gegner mit ausgeklügelter defensiver Ordnung zur Verzweiflung bringen würde?

Immerhin ist der Verein im Konzert der Großen weiterhin eher Eindringling als Teil des Establishments, viele der in der Vergangenheit geschlagenen Gegner hatten auf dem Papier die deutlich größeren Möglichkeiten, finanziell wie personell.

„Du kannst sagen: ‚Ich möchte wie Barcelona spielen’. Aber wir sind nicht Barcelona und wir werden es nie sein. Wenn du dir eine solche Spielform aneignest ist es sehr schwierig, nachhaltig in Erinnerung zu bleiben“, begründete Simeone einmal die Wahl des ihm eigenen Spielstils.

Nach vier Jahren im Amt mit einer Meisterschaft, einem Pokalsieg sowie dem Gewinn der Europa League lässt sich unzweifelhaft absehen, dass die Mannschaft unter seiner Führung tatsächlich niemals wie der FC Barcelona spielen wird.

Gleichzeitig lässt sich aber auch jetzt schon absehen, dass die Ära Simeone bei Atlético, ganz gleich wie lange sie noch dauern mag, nachhaltig in Erinnerung bleiben wird.

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