15. Juni 2018: Ich bin bei Bekannten zu einem WM-Abend eingeladen, Spanien gegen Portugal. Es ist ein sehr unterhaltsames Spiel, eine wahre Top-Partie bereits früh am Anfang der WM-Endrunde, mit vielen qualitativ hochwertigen Spielern – trotz allem sind viele im Raum unzufrieden. Die Atmosphäre glich einer Untergangsstimmung.
44. Minute, 1:1, Cristiano Ronaldo kommt am Sechzehner glücklich an den Ball und zieht ab. David de Gea hatte bis zu diesem Zeitpunkt eine hervorragende Partie gespielt und sich in der gleichen bestechenden Form präsentiert, wie bereits in den Monaten zuvor, doch nun, ausgerechnet beim Schuss des Weltstars, unterlief dem Spanier ein Patzer.
Der Manchester United-Tormann hatte Probleme den Aufsetzer zu parieren, der Ball landete unglücklich im eigenen Tor. Die bis dahin fehlerfreie Leistung des Keepers wurde im Raum schnell vergessen. „Was für ein Fliegenfänger!“, „De Gea, was soll die Scheiße?!“ hallt durch das Wohnzimmer.
Die Stimmung blieb im Keller. Jeder einzelne Fehlpass oder zumindest nicht ganz genaue Pass, wurde in Einzelteile zerlegt und mit Wut und Grant beurteilt, fantastische Spieler als schlecht abgestempelt – etwas, das mir bereits Monate zuvor auffiel und im Magen lag. Denn immer öfter fordern Fußball-Fans Perfektion und eine schon unnatürliche Fehlerfreiheit.
Selbst nach einer schier perfekten Vorstellung eines Spielers, scheint eine erfolgreiche Passquote von gerademal 90 Prozent den Fußball-Fans nicht (mehr) zu genügen. Gründe dafür scheint es viele zu geben. Zum einen tendieren wir immer mehr zur Dramaturgie, zum anderen suchen wir Bestätigung – meist in sozialen Medien. Am besten scheint dies jedoch mit Empörung zu funktionieren.
Wer kennt es denn nicht, dass ein positiver Post, Tweet oder gar Artikel in den Medien weniger Likes generiert als einer, in dem sich über etwas Aktuelles empört wird. Aufgrund dieser Negativität wird unsere Wahrnehmung stark verfälscht. Dass Romelu Lukaku beispielsweise weniger Spiele benötigte (224 Spiele), um ebenso viele Tore in der Premier League zu erzielen (104 Tore) wie Didier Drogba in seinen neun Jahren bei Chelsea (254 Spiele), bleibt beispielsweise ungelobt und findet kaum Erwähnung – damit bleibt der Eindruck, dass es heutzutage weniger Top-Spieler als damals gäbe.
Damit war der Grund recht schnell dafür gefunden, weshalb ich den Fußball nicht mehr so liebe wie in meiner Kindheit. Für mich waren damals alle Spieler großartig. Ob nun Totti, Henry, Ronaldinho oder etwa Nesta, Heinze oder Cafu – schlechte Spieler gab es einfach nicht. Wir alle hatten einen positiven Blick auf den Sport und bewerteten Spieler daraufhin anders.
Mit der Entwicklung des Internets fanden solche Bewertungen nun eine neue Stufe. Es vergeht kein Tag, an dem die beiden unmenschlichen Spieler Lionel Messi und Cristiano Ronaldo nicht auf perverseste Art und Weise verglichen werden – egal wie lächerlich der Vergleich auch sein mag. Ebenso findet man täglich Videos oder Postings zu Malheurs verschiedenster Spieler, über die es sich lustig gemacht wird, welche später für Argumentationen verwendet werden.
Die Welt wird schneller, die Welt wird lauter, die Welt wird gespaltener. In einem sind wir aber alle gleich: wir lieben es, uns zu empören. Und da, genau da, liegt der Hund begraben.
Während früher Spieler vergöttert wurden, bietet das Internet heutzutage unzählig Platz für Bullshitting, Kritik oder jegliche Empörung. Wird ein Spieler in den Medien mit einem Verein in Verbindung gebracht, so sammeln sich binnen kürzester Zeit Tausende Tweets, in denen Experten und auch vermeintliche Experten ihre Meinung zu diesem Transfer preisgeben. Viele selbstsichere Journalisten teilen zynische Tweets, die Fans aufschnappen und ähnlich wiedergeben.
Als Barca im Vorjahr auf der Suche nach einem Mittelfeldspieler war, wurden die Katalanen in China fündig und fanden mit Paulinho einen neuen Mann. Das Netz war voll mit Lachern, Fail-Videos und kritischen Texten. Letztendlich hat der Brasilianer seine Aufgabe hervorragend gemeistert und die Kritiker zum Verstummen gebracht – Lob gab es dennoch keines.
Auch diesen Sommer waren es die Barca-Fans, die ins Auge stachen. „Willian?! Was will Barca denn mit dem? Wäre peinlich!“, so der O-Ton. Dass es wohl bessere Optionen gäbe, ist unumstritten, dass ein Spieler wie Willian – immerhin Stammspieler bei den „Blues“ und der brasilianischen Nationalmannschaft und verdrehte im Jahr zuvor der FCB-Verteidigung den Kopf – eine „lächerliche Verpflichtung“ wäre, ist an Schwachsinn nicht zu überbieten.
Ohne jegliches Wissen, über die finanziellen Mittel, die Verhandlungsbasis, die realistischen Optionen, die Konkurrenten, die Rolle der Berater, uvm. debattierten Fans über deutlich bessere Optionen und forderten abermals einen schier perfekten Transfer und redeten die letzten Jahre (immerhin 1x Champions League, 3 Meistertitel und 4 Pokal-Siege in den letzten 5 Jahren) schlecht, als läge der Verein in Schutt und Asche. Ein solider, verlässlicher Ersatzmann ohne viel Risiko, ist für die Fans einfach nicht akzeptabel.
Ähnliche Empörung gab es zuletzt auch bei der Verpflichtung von Arturo Vidal, der bis vor kurzem noch zu den weltbesten Mittelfeldspielern der Welt zählte ehe er eine schwierige Zeit bei den Bayern erlebte, aber nach seiner Verpflichtung übertriebenen Vergleichen ausgesetzt war.
„Der passt doch gar nicht ins System“, wollen die Fans wissen und sprechen zugleich vom nicht mal mehr angewandten „Tiki Taka“, das Barca ja angeblich noch spiele.
„Tiki Taka“ hätten viele gerne auch an diesem WM-Abend gesehen. Vor der Begegnung zwischen Spanien und Portugal trafen Iran und Marokko aufeinander. „Team Melli“ stand gegen die Nordafrikaner tief. Sehr tief. „Das ist doch kein Fußball! Schlechteste. WM. Ever“, sagte mein Sitznachbar selbstsicher.
„Was schaust du denn so für Matches normalerweise?“, fragte ich mittlerweile leicht genervt. „Barca, Napoli, Manchester City, …“, antwortete er mir und rief im gleichen Atemzug „… so spielt doch kein Mensch mehr heutzutage!“
Etwas, das ich auch von vielen Freunden und Bekannten kannte. Wie viele meiner Freunde bin auch ich ein großer Fan von Ballbesitzfußball mit intensiven Pressing. Zu fordern, dass eine jede Mannschaft so spielen müsse, wäre jedoch lächerlich. „Endlich ist scheiß Island raus“, kann ich mich an eine überglückliche WhatsApp-Nachricht eines Freundes erinnern, der über die Spielweise des Inselstaates nicht erfreut war. Viele scheinen jedoch zu vergessen, dass das Niveau der WM in vielen Ligen Europas – ob nun Oberhaus oder dritte Liga – weit vertreten ist, was viele, die nur mehr Teams à la Sarri folgen, gar nicht mehr zu wissen scheinen.
Ein ähnliches Bild erhält man, wenn man einen Blick auf Twitter wirft, wo viele nicht bloß ihre Meinung äußern, sondern diese felsenfest vertreten. Das wurde vor allem beim Ausscheiden der Bayern vor einem Jahr gegen Real Madrid deutlich. „Ancelotti hätte XY machen müssen, da umstellen und generell Dreierkette spielen lassen sollen“ und so weiter und so fort.
Schlimmer als die Arroganz der Fans, mehr zu wissen als renommierte Champions-League-Trainer, ist das kontextferne Kritisieren.
Alles, was nicht ihrem Standard entspricht, ist automatisch schlecht und es gibt wenig, was sie davon abbringen kann. Am ehesten wurde das an Zidane deutlich, der immer wieder mit Kritik an seiner Spielweise zu kämpfen hatte. Auch von unserer Seite gewisser Maßen. Von vielen Seiten wurde gar nicht bedacht, dass man ein Team auch anders als üblich aufstellen kann. Dass eben nicht immer eine Schablone auf die Teams passen muss.
Weltmeistertrainer, mehrfache Champions-League-Gewinner und andere Trainer, die ihre Qualitäten bereits mehrfach nachgewiesen haben, werden als Stümper dargestellt. Nur, weil sie vielleicht keine fancy Dreierkette spielen lassen oder ihr Team sich nicht wie Napoli durch Defensivblöcke kombiniert. Ihr Plan einfach nicht aufging. Oder weil Sebastian Rudy nicht in aller Regelmäßigkeit spielt.
Bei all den Emotionen, die den Fußball ausmachen (und unbedingt beibehalten werden sollten), darf man wie immer nicht das große Ganze aus den Augen verlieren.
Anstatt Spieler und Trainer, die auch nur Menschen sind und nun mal Fehler machen, einfach zu genießen, empört man sich lieber, um Teil eines vermeintlich elitären Experten-Kreises zu sein, der selbst Top-Spielern und Top-Trainern jegliche Qualitäten absprechen möchte, da Kritiken meist nun mal besser ankommen als Lob.
Wie auch im Leben, sind die schönen Seiten die vielen Individualitäten und Unterschiede, die uns und auch die Spieler, Trainer, Vereine und Fans ausmachen. Vielleicht würde es uns gut tun, ab und an den Sport mit einer positiveren Einstellung zu betrachten und zu genießen.
– ein Kommentar von Marco Stein & Sascha Felter
Ich finde ja die Grundidee hinter diesem Beitrag sympathisch. Aber ich glaube ihr verklärt da auch mit nostalgischer Brille die Vergangenheit. Zu Zeiten von Ronaldinho und Henry wehrte sich Rudi Völler davor “alles in den Dreck zu ziehen” und jede Woche wurde ein neuer Tiefpunkt ausgrufen. Als 12-Jähriger schaut man vielleicht noch anders, aber ich weiß noch genau, dass die Kommentare von den älteren in den heimischen Runde vorm TV genauso “arrogant” waren wie heute. Vom Stadion mal ganz abgesehen.
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