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Made in Montevideo: Die Talentschmiede von Nacional

Wenn es um Vereinsfußball in Südamerika geht, denkt man in der Regel sofort an die großen brasilianischen oder argentinischen Vereine wie Flamengo, den FC Santos, River Plate oder die legendären Boca Juniors.

Doch auch der Club Nacional de Football aus Montevideo kann auf eine glorreiche Vereinshistorie zurückblicken und gehört als uruguayischer Rekordchampion sicherlich zu den traditionsreichsten Fußballvereinen Südamerikas.

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Der 1899 gegründete Verein gewann mit der Torneo Intermedio Anfang Januar die 160. Trophäe in seiner langen Historie.

Drei dieser Trophäen entsprangen Siegen bei der ruhmreichen Copa Libertadores in den Jahren 1972, 1981 und 1989. Drei weitere Trophäen wurden bei der jeweils darauffolgenden Klubweltmeisterschaft gewonnen.

Darüber hinaus trägt die Mannschaft ihre Heimspiele in einem der historischsten Fußballstadien der Welt aus. Im Estadio Gran Parque Central fand 1930 eines der ersten WM-Spiele statt. Tradition findet man bei Nacional also auf allen Ebenen.


Dies ist ein Gastbeitrag von Johannes Skiba

 

Aus großer Tradition folgt große Verantwortung

Doch trotz aller historischen Erfolge ist Nacional ein Verein, der in der Gegenwart lebt. In der aktuellen ersten Mannschaft des Vereins spielen zahlreiche junge Spieler mit enormen Entwicklungspotenzial.

Dieses Potenzial dürfen die verheißungsvollen Talente regelmäßig auf dem Platz zeigen, denn der Club folgt im Umgang mit jungen Spielern einem besonderen Konzept.

Spielpraxis steht für junge Spieler des Vereins an erster Stelle, um deren Entwicklung bestmöglich zu fördern und das vorhandene Potenzial vollkommen auszuschöpfen.

Was in der Theorie logisch und simpel klingen mag, wird in der Praxis der meisten Fußballvereine oft nur zögerlich befolgt.

Nacional geht diesen Weg jedoch mit voller Überzeugung und schreckt auch nicht vor Entscheidungen zurück, die zwangsläufig mit einem gewissen Risiko behaftet sind.

 

Das traumhafte Debüt des Guillermo Centurión

Ein passendes Beispiel dafür bietet das Profi-Debüt des erst 19-jährigen Torhüters Guillermo Centurión, welches er im Torneo Intermedio-Finale gegen die Montevideo Wanderers Anfang Januar geben durfte.

Exakt solch eine Entscheidung von Trainer Jorge Giordano spiegelt den Weg, den der Verein mittlerweile sehr konsequent geht, wider. Es ist gerade diese Konsequenz im Umgang mit jungen Spielern, die vielen Vereinen, nicht nur in Südamerika, zu fehlen scheint.

Normalerweise verlangen Entscheidungen, wie im Fall von Centurións Profi-Debüt, viel Mut. Von Allen: Vom Verein, vom Trainer und nicht zuletzt vom Spieler selbst. Doch Centurión schafft es in seinem ersten Profi-Spiel nicht nur seinen Kasten 120 Minuten sauber zu halten.

Als wäre die Geschichte seines Fußballprofidebüts nicht schon erstaunlich genug, gelingt es dem jungen Keeper im anschließenden Elfmeterschießen, zwei von drei Elfmetern abzuwehren.




 

Auch in der Vergangenheit hat Centurión schon Mut bewiesen. 2015 schoss er in der Nachspielzeit eines U14-Matches von Nacional ein unglaubliches Kontertor.

In der Nachspielzeit fing er den Ball nach einer Ecke des Gegners ab, legte sich selbst den Ball weit vor, spielte an der Mittellinie sehenswert den gegnerischen Torwart aus, indem er ihn einfach überlief, und schob dann wie ein erfahrener, eiskalter Stürmer aus gut 40 Metern ins leere Tor ein.

Die Karriere von Guillermo Centurión hat also schon in seiner Jugend besondere Züge erhalten. Außerdem lässt sich dem jungen Keeper eine gesunde Verrücktheit attestieren, die früher einmal Grundvoraussetzung eines Profitorhüters war.

Heutzutage sind solche individuellen Besonderheiten gerade in den Nachwuchsleistungszentren Europas eher ungern gesehen. Für die Fans jedoch kann so ein Charakterzug eine bedeutsame Abwechslung zu den modernen phrasendreschenden Prototypen des Profifußballgeschäfts darstellen.




 

So stellt sich nun die Frage, ob Mut das treffende Attribut ist, um die Entscheidung, Centurión spielen zu lassen, zu beschreiben. Augenscheinlich spielte das Fachwissen von Trainer Giordano, auf den richtigen Torwart gesetzt zu haben, die größte Rolle dieses ungewöhnlichen Profi-Debüts.

Als Fußballromantiker bevorzugt man aber wohl immer eher die märchenhafte, sagenumwobene Variante, nach der Centurión aus dem Nichts zum kommenden uruguayischen Torwartstar und dem jahrelang gesuchten Nachfolger für Torwartikone Fernando Muslera (34) avancieren könnte.

Natürlich ist es für so eine Voraussage viel zu früh, wenn sie nicht gar utopisch ist, da in den folgenden Spielen der etatmäßige und europaerfahrene Torwart Sergio Rochet (27) wieder zwischen den Pfosten stand.

Und dennoch, eine solche Hoffnung wurde sicherlich bei einigen Fans des uruguayischen Fußballs geweckt. Denn eines steht fest: Fußball bedeutet auch immer Romantik.

 

Jung und naiv

Centuríon ist allerdings nur das jüngste Beispiel einer langen Liste junger uruguayischer Spieler, die aktuell große Spielanteile bei Nacional erhalten und zusätzlich mit großer Verantwortung betraut werden.

So wie der 21-jährige Mittelfeldspieler Emiliano Martínez, der das entscheidende Elfmetertor im Finale erzielen konnte.

Oder der Sechser mit dem Schnauzbart, Gabriel Neves (23), der im November 2020 sein Debüt in der uruguayischen Nationalmannschaft feiern durfte: Eine Auszeichnung für die gute Arbeit des Vereins und des Spielers.

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Besonders, wenn man sich vor Augen führt, dass in den meisten südamerikanischen Verbänden grundsätzlich wenige Spieler zur Nationalmannschaft berufen werden, die noch in der heimischen Liga aktiv sind.

Gleichwohl ist hier vor allem bei der brasilianischen Nationalmannschaft eine Trendwende erkennbar, die sicherlich andere CONMEBOL-Verbände beeinflussen könnte.

Aber es sind nicht nur die Triumphe und Erfolge, die den jungen Spielern des Club Nacional de Football zuteilwerden. Logisch, denn eine erfolgreiche Ausbildung ist ohne Niederlagen kaum möglich.

In dieser Saison erreichte Nacional das Viertelfinale der Copa Libertadores, was gut und gerne als weiterer großer Erfolg der jüngeren Gegenwart gezählt werden darf. In den Viertelfinalspielen gegen River Plate aus Buenos Aires wurden jedoch einige Defizite der jungen Mannschaft offensichtlich.




 

Das Rückspiel verlor Nacional, das in der Innenverteidigung mit Renzo Orihuela (19), Matthías Laborda (21) und Augustín Oliveros (22) sowie Emiliano Martínez (21) und Gabriel Neves (23) im zentralen defensiven Mittelfeld spielte, deutlich mit 6:2.

Das Durchschnittsalter des defensiven Verbundes betrug 21,2 Jahre (das Durchschnittsalter der ersten Elf betrug 22,2 Jahre, wobei zu bemerken ist, dass mit Gonzalo Bergessio und Chory Castro zwei 36-jährige dieser Formation angehörten). Die jungen Verteidiger wurden von der Offensivpower Rivers überwältigt und spielten gegen einen erfahrenen Gegner deutlich zu naiv.

Torhüter Rochet musste bereits nach 15 Minuten, aufgrund einer roten Karte, das Feld verlassen. Nichtsdestotrotz stand die komplette Defensive derart hoch, dass die kombinations- und abschlussstarken Spieler von River keine Probleme hatten, sechs Tore zu erzielen.

Als Blamage konnte man das Ergebnis dennoch nicht wahrnehmen. Viel mehr könnte man von einer Lehrstunde sprechen – einer Erfahrung, die der jungen Defensive für zukünftige Spiele dieser Art helfen wird.

Grundsätzlich ist die junge Mannschaft aber nicht auf sich allein gestellt. Neben dem erfahrenen Trainerteam reihen sich einige bekannte Alt-Stars wie Kapitän Gonzalo Bergessio (36) oder der kürzlich verpflichtete und aus der Bundesliga noch bestens bekannte Andrés D´Alessandro (39) ein, die dem Team mit ihrer großen Erfahrung wichtige und unverzichtbare Impulse geben.

Zu seiner Unterschrift und dem neuen Klub sagte D´Alessandro Anfang des Jahres: „Ich erfülle mir einen Traum meiner Profikarriere und werde alles geben. Mit Respekt, Engagement und Hingebung, um den besten uruguayischen Verein der Dekade noch größer zu machen.“

 

Aus Montevideo raus in die Welt

Selbstverständlich zielt das gesamte Förderungskonzept darauf ab, in naher oder ferner Zukunft einen möglichst gewinnbringenden Verkauf der Spieler generieren zu können.

Gerade für europäische Vereine scheint die Verpflichtung eines jungen Spielers aus Südamerika auch heute noch ein zu großes Risikogeschäft zu sein.

Doch sind die Förderstrategien von Nacional gepaart mit zufriedengestellten europäischen Kunden durch vergangene Transfers, mehr als nur Indizien der erfolgreichen und effektiven Arbeit mit jungen Talenten, die in Montevideo geleistet wird.

Denn betrachtet man die Liste von Nacionals Spielerverkäufen der letzten drei Jahre findet man viele interessante Namen wie Mathías Olivera (23, FC Getafe), Erick Cabaco (25, FC Getafe) oder Christian Oliva (23, FC Valencia, ausgeliehen von Cagliari Calcio), die alle feste Bestandteile ihrer neuen Vereine sind, wenngleich der ganz große Durchbruch für diese drei Spieler bisher ausblieb.

Gestandene Spieler europäischer Mittelklassevereine genießen zwar nicht die größte öffentliche Wahrnehmung und das höchste Ansehen, nichtsdestotrotz ist die Arbeit des Club Nacional als Spielerlieferant für europäische Vereine aller Profispielklassen essenziell.

In der Saison 2018/19 verließen Franco Israel (19, TW) und Juan Manuel Sanabria (20, ZM) die U19 Nacionals in Richtung der Zweitbesetzungen von Juventus Turin bzw. Atlético Madrid. Dennoch, ein weiterer Weltstar wie Luis Suárez (34), der 2006 von Nacional nach Groningen wechselte, wurde bis jetzt noch nicht gefunden.

Trotzdem ist es sehr wahrscheinlich, dass auch in Zukunft viele weitere Talente Club Nacional verlassen werden, um in Europa oder bei anderen großen südamerikanischen Vereinen ihr Glück zu suchen.

Gleichzeitig hat der Verein dann mit großer Sicherheit schon ein neues Talent in der Hinterhand, das den Platz des Weitergezogenen nicht nur theoretisch einnehmen kann, sondern auch praktisch einnehmen wird.

Nachdem Santiago Rodríguez (20), der wohl talentierteste Spieler des Vereins, Anfang Januar an Montevideo City Torque, dem uruguayischen Ableger der City Group abgegeben werden musste, stattete Nacional Ende Januar ganze neun Talente aus der hauseigenen Akademie mit bis Ende 2023 laufenden Profiverträgen aus.

Alle mit dem wertvollen Stempel „Made in Montevideo“ versehen.


Dies war ein Gastbeitrag von Johannes Skiba

(Titelbild: © Getty Images/Cavanis Friseur Illustration)

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Johannes Skiba
Lernte auf den Fußballplätzen von Buenos Aires Spanisch und in den Favelas von Rio de Janeiro Portugiesisch. Schaut europäischen Fußball nur noch wegen südamerikanischen Spielern. Betet für ein Revival des klassischen Zehners. Erfinder des Tricks „Jo-Capoeira-Drehung“ (anno 2015 auf den Frankfurter Hartplätzen). Fühlt ein Stück Kindheit, wenn er südamerikanischen Fußball schaut oder selbst am Ball ist und führt zudem einen Podcast zu südamerikanischen Fußball (Gol Olímpico).

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