(Grafiken: Erstellt von Cavanis Friseur)
Die spanische Nationalmannschaft – das ist Tiki-Taka, Kurzpass für Kurzpass und ein hoher Ballbesitzanteil. Die EM-Titel 2008 und 2012 sowie die Weltmeisterschaft von 2010 ließen das spanische Spielsystem als weit überlegen erscheinen.
Durch diesen Siegeszug des Tiki-Taka entstand wohl auch der Mythos, viel Ballbesitz und viele gespielte Pässe wären der Schlüssel zum Erfolg.
Einen aussagekräftigen Gegenbeweis erbrachte 2018 ausgerechnet die spanische Nationalmannschaft: Das Team um Andrés Iniesta stellte im Achtelfinale einen neuen WM-Rekord auf – 1114 Pässe in 120 Minuten.
Aber auch 78% Ballbesitz konnten in diesem Spiel das frühe Ausscheiden der Spanier nicht verhindern. Nach dem Elfmeterschießen zog anstelle der Iberer Gastgeber Russland ins Viertelfinale ein.
Unpräzise Pass-Daten
In den letzten Jahren hat die detaillierte Datenerfassung mehr und mehr ihren Einzug in den Profi-Fußball gehalten. Im Zuge dessen wurden auch immer mehr Verfahren entwickelt, welche die erfassten Daten auswerten und für Trainer, Scouts und Fans verständlich machen: Am bekanntesten ist wohl das xG-Modell, welches die Abschlüsse eines Teams bewertet.
Ein kleines Rätsel ist dagegen, warum noch kein bekanntes und transparentes Modell sich mit der Bewertung von Pässen beschäftigt. In abschlussarmen Spielen hat das xG-Modell kaum Aussagekraft, weil es sich nur um die Abschlüsse der Teams dreht.
Ein System, welches das Pass-Spiel analysiert, könnte dagegen auch in solchen Spielen ein aussagekräftiges Bild schaffen. Bereits bestehende Daten-Pools wie Pass-Maps oder die Pass-Quote liefern zwar einzelne Aspekte, die alleinstehend allerdings nur wenige Schlussfolgerungen zulassen.
Andere Daten sind dagegen sogar extrem ungenau, startend mit den Vorlagen eines Spielers: Bei der Datenerfassung kann nicht berücksichtigt werden, wie viel der Spieler wirklich zum anschließenden Tor beigetragen hat.
Ob Sergio Busquets Lionel Messi den Ball 35 Meter vor dem Tor überlässt, dieser danach 3 Gegner aussteigen lässt und dann erst das Tor erzielt oder ob Cristiano Ronaldo den Ball nach einem 50-Meter-Pass nur noch ins leere Tor schieben muss – beides zählt als Vorlage.
Und damit ist es keinesfalls getan – im ersten Fall bekommt Sergio Busquets genauso eine Torschussvorlage wie den xG-Wert von Messis Abschluss in seine xA eingerechnet, obwohl dazwischen noch mehrere andere Aktionen liegen. Dabei hat Busquets Messi zwar den Ball zugespielt, aber kaum Anteil an der hervorragenden Abschluss-Situation gehabt.
Was ist eigentlich eine Flanke?
An anderen Stellen werden Pass-Daten willkürlich von Statistik-Websites aufgeschlüsselt: So definiert fbref einen progressive pass als Pass, der mindestens 20 Yards in Richtung des gegnerischen Tores zurücklegt. Pässe, die knapp unter 20 Yards überbrücken, fallen aus dem Raster – und damit aus der Statistik.
Immerhin wird an dieser Stelle aber noch eine Definition festgesetzt – bei sofascore werden dagegen zwar lange Bälle und Flanken gezählt, aber keinesfalls erklärt, wie die Daten zustande kommen. Auch bei fbref werden Pässe in die Kategorien kurz, mittel und lang unterteilt.
Das Pass-Spiel lässt sich mit solchen vereinfachenden Systemen kaum ordentlich evaluieren, vielmehr sollten eigentlich bei jedem Pass verschiedenste Daten in die Bewertung einfließen.
Überbrückte Distanzen
Im Optimalfall werden bei einem Pass Daten erfasst, von welchem Ausgangspunkt auf dem Spielfeld der Ball wohin gespielt wird. Wenn beide Punkte vorliegen, lassen sich daraus schon einige wichtige Daten berechnen.
Zunächst ist die Distanz, die der Ball zurücklegt, eine wichtige Information. Je länger der Pass, desto mehr verändert sich im ballorientierten Fußball die Spielsituation.
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Gleichzeitig wird an dieser Stelle auch die Geschwindigkeit des Passes benötigt – ein hart geschlagener Ball, der das Spiel von einer Seite auf die andere verlagert, macht es dem gegnerischen Team schwer, vor der nächsten Aktion schon optimal auf die neue Spielsituation reagiert zu haben.
Des Weiteren könnte auch die progressive distance aus Anfangs- und Endpunkt des Passes berechnet werden – und zwar gleich in zwei Richtungen. Es sollten sowohl die zurückgelegte Entfernung in Richtung gegnerischer Torauslinie als auch die überbrückte Distanz in Richtung Zentrum eine Rolle spielen.
Im Optimalfall legt ein Pass nämlich nicht nur an der Außenlinie eine große Entfernung zurück, eine zentralere Position des Empfängers hat auch verschiedenste Vorteile – was direkt zum nächsten Punkt führt.
Anschlussaktion, Packing & Ausgangssituation
Bei der Bewertung eines Passes sollte auch die Folge-Aktion des Empfangenden berücksichtigt werden. Wenn dieser z. B. an der Außenlinie in eine aussichtslose Pressing-Situation gerät und den Ball verliert, war der Pass wohl nicht perfekt.
Natürlich ist der Passgebende nur indirekt an der nachfolgenden Aktion beteiligt. Durch die große Sample Size bei Pässen ergibt sich an dieser Stelle über einen längeren Zeitpunkt aber trotzdem ein aussagekräftiges Bild.
Auch der Packing-Wert eines Passes sollte mit bewertet werden, dieser gibt die Anzahl der überspielten Gegner an. Diese Werte werden von der Impect GmbH erfasst und sind sehr interessant, weil man mithilfe der Daten z. B. Schnittstellenpässe als solche identifizieren kann.
Ebenfalls wichtig ist natürlich die Ausgangsposition, aus welcher ein Pass gespielt wird: Ein Querpass vor dem gegnerischen Tor hat eine ganz andere Wirkung als ein Querpass zwischen zwei Innenverteidigern, obwohl sie in allen anderen bisher genannten Daten übereinstimmen können.
Die optimale Modellierung einer solchen Spielsituation und die Überführung in Daten ist überaus kompliziert: Neben der absoluten Position auf dem Platz müssen auch bereits überspielte Gegner, die Drucksituation durch Gegenspieler und der Winkel zum Tor berücksichtigt werden.
Ein simples Beispiel, warum auch dieser Winkel eine Rolle spielt, ist ein Pass von der Grundlinie in den Rückraum: Obwohl der Ball sich wieder vom gegnerischen Tor entfernt und evtl. wieder mehr Gegenspieler zwischen ballführendem Spieler und Tor stehen, verbessert sich die Chance auf einen Torerfolg deutlich.
Viele Daten – ein System?
All diese Werte gemeinsam würden eine großartige Grundlage bilden, um das Pass-Spiel von Teams und Spielern zu analysieren und interpretieren. Dabei würde wohl auch die Verknüpfung der Daten eine äußerst relevante Rolle spielen.
Ähnlich wie bei den expected Goals, nur mit deutlich mehr Parametern, ließe sich ein Algorithmus entwickeln, der Pässe nach verschiedenen Kriterien bewertet und dabei alle relevanten Daten berücksichtigt.
So könnte ein solches System einen Pass nach verschiedenen Gesichtspunkten bewerten. Grundsätzlich sind verschiedene Ziele möglich – von der Ballsicherung bis zum Kreieren von gefährlichen Situationen.
Erschwert wird die Entwicklung eines solchen Systems aber eben durch diese möglichen verschiedenen Zielsetzungen: Beim xG-Modell ist klar, dass das Ziel eines Abschlusses ein Torerfolg ist.
Also kann man neben anderen Parametern auch auf historische Daten zurückgreifen, konkret: Ähnliche Abschlüsse aus alten Spielen können als Vergleichsbeispiele herangezogen werden.
Bei Pässen sieht das anders aus: Nicht nur lassen sich nur kompliziert ähnliche Spielsituationen finden, weil die exakte Positionierung der Spieler auf dem Feld eine große Rolle spielt, auch die Ziele eines Passes können unterschiedlich sein.
Auch wenn die Entwicklung eines solchen Modells wohl noch einige Zeit in Anspruch nimmt (wenn sie überhaupt passiert), wäre bereits jetzt detailliertere, öffentlich zugängliche Daten wie die in diesem Text beschriebenen wünschenswert – und durchaus auch möglich. In der Bundesliga ist z. B. im Spielball ein Chip implementiert, der die genaue Erfassung der Positionsdaten ermöglicht.
Wenn solche Daten ordentlich aufbereitet und veröffentlich werden würden, könnte man daraus Rückschlüsse auf die Pass-Qualitäten und die Übersicht einzelner Spieler ziehen – und damit endlich gute Statistiken finden, um die Stärken eines Toni Kroos oder Sergio Busquets mit Statistiken zu untermauern.
Ein Teil der Antwort könnte ja ein “Delta xG” sein. Wenn der Pass (egal ob mit oder ohne Packing) den xG deutlich verändert, war es ein guter Pass. Das würde für die Situation von Flanken und Querpässen (also alles im Angriffsdrittel) eine gute Aussage über die Qualität des Passes sagen.