Wie gut war eigentlich … Alessandro Nesta?

Ob Franco Baresi, Fabio Cannavaro oder aktuell Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci – Italien mangelte es nie an guten Innenverteidigern. Dabei fehlt in der Liste noch einer der legendärsten Innenverteidiger aller Zeiten:
Alessandro Nesta.

Zusammen mit Vereinslegende Paolo Maldini bildete er bis zu dessen Karriereende die Innenverteidigung beim AC Mailand. In seinen 10 Jahren bei Milan gewann Nesta zweimal die Champions League und konnte außerdem 2006 mit Italien die Weltmeisterschaft erringen.

Der inzwischen 43-jährige Nesta war vor allem für seine Härte bekannt. Ein klassischer italienischer Verteidiger: Resolut gegen den Ball und ohne Angst, auch die weniger feine Klinge zu bedienen.

Sucht man auf Youtube nach Alessandro Nesta, findet man vorrangig Highlight-Videos seiner besten Grätschen; dem Klischee des kompromisslosen Italieners wird er durchaus gerecht. Allerdings spiegeln die Zusammenschnitte nicht die gesamte Bandbreite seiner Fähigkeiten wieder – Nesta war kein typischer Innenverteidiger.

 

Alessandro Nesta, der moderne Innenverteidiger

Stattdessen war der 43-Jährige äußerst modern und dem Fußballspiel eventuell ein paar Jahre voraus, sodass das Facettenreichtum seiner Stärken nicht ideal eingebunden wurde.

Ein Aspekt, der bei dem Italiener vollends unterschätzt wird, ist sein Passspiel. Nesta war in der Lage, auch unter Druck komplizierte Pässe an den Mann zu bringen. Dabei hatte er einige Zuspiele im Repertoire: Ob den Flugball auf den Zielspieler, Diagonalbälle auf die Flügelspieler oder gar liniebrechende Pässe zu den zentralen Mittelfeldspielern.

Obwohl der Innenverteidiger hier sehr gut ausgebildet war, war das Passspiel nicht einmal seine größte Stärke mit Ball. Es war sein Andribbeln und seine Handlungsschnelligkeit nach Ballgewinnen.

Gewann Nesta die Kugel, wusste er sofort, was zu tun war. Da der Gegner nicht auf einen Ballverlust eingestellt war, nutzte der Italiener sofort die Unordnung aus. Gerade erst hatte er den Pass abgefangen, da schaltete Nesta schon den Vorwärtsgang ein.

Auffällig war dabei seine Entschlossenheit im Dribbling, ohne jedoch hektisch zu werden: Verdichtete sich der Gegner schnell, spielte Nesta den Ball mit guter Übersicht ab. Hatte er viel Platz, führte er den Ball jedoch gerne mal 20-30 Meter am Fuß.

Dabei kam dem 1,87m großen Recken seine gute Dynamik und überraschende Agilität zugute. Er war schneller als viele seiner Gegenspieler und konnte somit auch mit schierem Tempo durchbrechen.

Und so unsauber einige der Wörter gewesen sind, die er seinen Gegnern auf den Weg gegeben hat: Seine Befreiungsschläge und sonstige Klärungsaktionen waren von außerordentlicher Sauberkeit geprägt.

Eine beeindruckende Fähigkeit, die in der öffentlichen Wahrnehmung etwas zu kurz kommt – eine scharf gespielte Flanke ist gar nicht so einfach „richtig“ zu klären. Nesta jedoch gelang das auf sehr gutem Niveau: Bälle wurden sauber ins Seitenaus statt zur Ecke geklärt.

Wenn der Ball im Feld gehalten werden sollte, landeten die Bälle trotz ihrer vermutlichen Unkontrolliertheit erstaunlich oft bei einem Mitspieler. Das spricht für eine saubere Vororientierung des Innenverteidigers.

 

Die defensiven Kerndisziplinen

Nun der weniger überraschende Teil – Nesta war gegen den Ball ebenfalls verdammt gut.

Die stärkste Facette an seinem Defensivspiel war das Herausrücken: Mit unheimlich gutem Timing stieß er weiträumig aus der Abwehrkette vor, um den Gegner nicht nur unter Druck zu setzen, sondern die Bälle direkt zu gewinnen.

Beeindruckend war, wie er trotz vereinzelt großem Risikos eine solche Erfolgsstabilität behielt. Alessandro Nesta traf konstant die richtige Entscheidung.

Ebenfalls herausragend war er im Absichern seiner Mitspieler. Der Italiener fand stets den optimalen Abstand, um jederzeit den ballführenden Spieler zu stellen. Dabei kam ihm seine überraschende Dynamik zugute, durch die er ebenfalls weiträumige Laufduelle für sich entschied.

In den „klassischen“ Disziplinen des Verteidigens befand sich Nesta gleichermaßen auf hohem Niveau. Die Zweikampfführung des Italieners war über jeden Zweifel erhaben. Das war einerseits bedingt durch seine intelligente Positionierung, andererseits durch seine unterschätzte Physis.

Nesta war ein robuster Abwehrrecke mit einer guten Agilität. Somit war er in der Lage, körperlich starke Zielspieler genauso in Schach zu halten wie flinke Dribbler. Obwohl er in seinen Zweikämpfen keine Härte scheute, begang er selten harte Fouls – dafür war sein Timing einfach zu gut.

Das Kopfballspiel war ebenfalls eine Stärke der überaus kompletten Innenverteidigerlegende. Mit seiner starken Sprungkraft und den 1,87m konnte er den Mittelstürmer des Gegners zur Verzweiflung bringen. Da fiel dann auch nicht weiter auf, dass sein Timing eigentlich nicht den höchsten Ansprüchen genügte.

 

Die (Mini-)Schwächen des Alessandro Nestas

Zugegeben: Das ist Meckern auf sehr hohem Niveau, doch auch ein Weltklassemann wie Nesta hatte kleine Schwächen.

Sein Spielaufbau mag seiner Zeit weit voraus gewesen sein, doch müssen (kleine) Abstriche gemacht werden: Mit dem rechten Fuß war in der Lage, praktisch jeden Pass zu spielen. Der linke Fuß jedoch war zumindest verbesserungswürdig.

Der Italiener traute sich zwar durchaus, Pässe mit Links zu spielen – allerdings fanden die Zuspiele dann nicht konstant ihr Ziel. Diese kleine Einschränkung trat besonders zutage, wenn er unter Druck stand und sich den Ball nicht mehr auf den starken Fuß „umlegen“ konnte.

In seinem Defensivverhalten traten ebenfalls geringe Defizite auf.

Teilweise verfolgte er den Mittelstürmer des Gegners zu mannorientiert und riss damit Lücken in die Abwehrreihe.

Taktisch sehr gut eingestellte Mannschaften konnten das mit ballfernen Tiefensprints in die entstandenen Lücken bestrafen.

Hinzu kam, dass Nesta manchmal zu stark auf den Ball fokussiert war. Somit hatte er die Gegenspieler in seinem Rücken nicht immer optimal im Blick. Potenziell war der Italiener also anfällig für Chipbälle vom Flügel in den ballfernen Halbraum – wahrlich kein einfacher Pass.

Wir meckern wirklich auf sehr hohem Niveau. Im gesamten Weltfußball gibt es kaum Verteidiger, die komplizierte Pässe mit beiden Füßen spielen können. Da ist Alessandro Nesta keine Ausnahme, wobei man ihm gar zugute halten muss, dass er seinen schwachen Fuß im Laufe seiner Karriere stark verbessert hat.

Das teils zu mannorientierte Verhalten können auch Anweisungen seiner Trainer gewesen sein. Die Entscheidung, wie lange er seinen Gegenspieler verfolgte und wann er ihn an einen Mitspieler „übergab“, traf er dabei erfolgsstabil.

Interessanterweise nahm sein Hang zum „ballwatching“ ab, umso näher der Gegner Richtung Tor kam.

Möglicherweise nahm er es bewusst in Kauf, seinen Rücken nicht dauerhaft zu beobachten, weil er wusste, dass der Chipball vom Flügel in den ballfernen Halbraum so gut wie nie gespielt wird.

 

Alessandro Nesta: Historisch modern

Alessandro Nesta gilt zurecht als einer der besten (italienischen) Innenverteidiger aller Zeiten. Ich rate jedem, der von Nesta, außer seiner „Best of Tacklings Compilations“, bisher nicht viel gesehen hat, sich zumindest ein Spiel über 90 Minuten anzusehen.

Denn der Italiener war kein Spieler, der oft grätschen musste oder besonders mit seiner harten Zweikampfführung herausstach: Nesta war ein überaus moderner, eleganter und antizipativer Innenverteidiger. Ein Innenverteidiger, der jeden Platz, den ihm der Gegner ließ, mit konsequentem Andribbeln und starken Pässen bestrafte.

Einer der Innenverteidiger, die mit ihrem Herausrücken Angriffe abwürgen, bevor sie entstehen können. Nesta verband die Kunst, ein ekliger Gegenspieler zu sein, mit einer unheimlichen Eleganz. Den defensiven Zweikampf führte er mit klinischer Präzision und trotzdem mit der nötigen Härte.

2011/2012 sollte schließlich seine letzte Saison beim AC Mailand darstellen. Zu dem Zeitpunkt war der Innenverteidiger bereits 36 Jahre alt, war jedoch immer noch Stammspieler.

Am Ende waren es vor allem die Verletzungen, die Nestas Karriereende herbeiführten. Seine Leistungen waren auch mit 36 Jahren auf dem Buckel noch nahe an der Weltklasse. Nesta war der lebende Beweis:

Ein moderner Fußballer kennt kein Alter.


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Henri Hyna
Liebt guten Fußball und hasst jeden nicht guten Fußball. Versteht aber auch nicht genau, wie guter Fußball funktioniert

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