Roberto Carlos – ein Name, der nach Urgewalt klingt. Ein Jahrzehnt lang prägte der 1,68m große Brasilianer die linke Flanke Real Madrids.
Mit den Galaktischen gewann der Linksverteidiger in der Zeitspanne von 1996 bis 2007 viermal die spanische Meisterschaft, dreimal die Champions League und zweimal den Weltpokal.
In der brasilianischen Nationalmannschaft gewann Roberto Carlos mit der Weltmeisterschaft 2002 und zwei Copa America Siegen ebenfalls die renommiertesten Trophäen im Weltfußball.
Sprechen die Titel und der langjährige Stammplatz bei Real Madrid und Brasilien für sich?
Anfängliches Misstrauen
Wie beim Großteil der bisher analysierten Spieler in dieser Reihe begegnete ich Roberto Carlos mit Argwohn: Eigentlich wusste ich von dem Brasilianer nur, dass er verdammt hart schießen konnte, dicke Oberschenkel hatte und viele Traumtore erzielt hat.
Das machte mich stutzig: Ein Linksverteidiger, dessen größte Qualität es war, den Ball aus unmöglichen Positionen mit Urgewalt aufs Tor zu bolzen?
Da lag die Vermutung nahe, dass die anderen Facetten seines Spiels ähnlich inkonstant sind wie Carlos in der Auswahl seiner Frauen (11 Kinder mit 7 Frauen!).
Doch wie beim Großteil der analysierten Spieler in der “Wie gut war eigentlich…?” Reihe wurde mein anfängliches Misstrauen schnell in pure Begeisterung umgewandelt. Denn: Roberto Carlos da Silva Rocha ist einer der komplettesten Linksverteidiger aller Zeiten.
Roberto Carlos: Der Mann mit der linken Klebe
Die prominenteste Stärke des Brasilianers waren seine Gewaltschüsse, die er mit einem unheimlichen Effet verbinden konnte. Sein bekanntestes Tor ist der Freistoßtreffer gegen Frankreich 1997.
Eine Analyse dieses Freistoßes ergab, dass der Ball stärker abgelenkt wurde als durch den Magnus-Effekt erklärbar. Carlos hatte den Ball mit einer solch seltenen Kombination aus Härte und Effet getroffen, dass der Ball für kurze Zeit eine spiralförmige Flugbahn annahm.
Zusammengefasst: Stand dieser Mann zum Freistoß bereit, wollte man nicht in der Mauer stehen (oder im Tor). Auch aus dem offenen Spiel sorgte Carlos für Torgefahr, ohne dabei jedoch zu überdrehen.
Der Brasilianer setzte seine Urgewalt mit Bedacht ein und schloss selten aus völlig unmöglichen Positionen ab. Und wenn er das doch mal tat, kam sowas dabei hinaus:
Roberto Carlos: Mehr als ein Traumtore-Produzent
Es wäre jedoch vermessen, Carlos einzig auf seinen Schuss zu reduzieren. Der Brasilianer war technisch ein äußerst kompletter Spieler.
Seine Ballannahmen waren eine Augenweide, seine Flugbälle besaßen eine außergewöhnliche Präzision und die Ballführung war vergleichbar mit der dribbelstarker Flügelspieler.
Carlos Dribbling kam zugute, dass er mit seinem niedrigen Körperschwerpunkt und dem überaus stabilen Körperbau über eine sehr gut ausgeprägte Balance verfügte.
Um diese Stärken voll entfalten zu können, agierte der Linksverteidiger in eigenem Ballbesitz wie ein Flügelspieler: Mit seinem starken Antritt sprintete er immer wieder in die Tiefe Richtung Grundlinie.
Das Timing seiner Läufe war einzigartig: Passten seine Gegner kurz nicht auf, entwischte er ihnen.
Eine Qualität, die ich in dem Ausmaß selten gesehen habe, war seine Fähigkeit, nach eigenem Pass unmittelbar Dynamik aufzunehmen.
Der Brasilianer spielte bspw. einen Vertikalpass und sprintete direkt danach in die Tiefe. Die Gegenspieler schauten noch dem Pass hinterher, da war Carlos schon Richtung Grundlinie durchgebrochen.
Von dort brachte er die Bälle messerscharf in die Mitte. Dabei spielte er oft flache Hereingaben an den ersten Pfosten, die vom hineinlaufenden Stürmer einfach verwertet werden konnten.
Jedoch zeigte er seine spielerische Qualität nicht nur im letzten Drittel – auch zum Spielaufbau trug er viel bei.
Besonders stark war das Andribbeln des 125-fachen Nationalspielers. Hatte der Linksverteidiger etwas Platz, nutzte er diesen konsequent. Dabei dribbelte er bevorzugt in den linken Halbraum, da er von dort die meisten Anschlussaktionen hatte.
So stand der Gegner vor einem Dilemma: Möchte ich Carlos im letzten Drittel nicht zur Entfaltung kommen lassen, muss ich tief stehen.
Stehe ich jedoch tief, durchbricht er mühelos die erste und zweite Pressinglinie und kann seine Kreativität auch ausleben.
Auch ein Verteidiger
Doch war die Position Roberto Carlos die des Linksverteidigers; da schadet es nicht, auch verteidigen zu können. Und das Defensivspiel des Brasilianers ist deutlich besser als sein Ruf.
Zuerst: Carlos vernachlässigte seine defensiven Pflichten keineswegs. Seine vielen Offensivläufe “kompensierte” er mit einer unheimlichen Arbeitsrate auf dem Spielfeld.
Unmittelbar nach Ballverlusten schaltete der Linksverteidiger im Vollsprint um und stellte wieder die Ausgangsformation her.
Dabei agierte er extrem gewissenhaft, achtete auf die passenden Abstände zu seinen Mitspielern und ließ seine Gegner nicht aus den Augen. Wegen seines intelligenten Spiels musste Roberto Carlos kaum Zweikämpfe führen.
Der Brasilianer war immer dann da, wenn der Ball gerade beim Gegenspieler angekommen war. Dadurch konnte dieser nicht aufdrehen und Carlos wurde in kein frontales 1 vs. 1 Duell verwickelt.
Der Linksverteidiger war also defensivstark – nicht zu verwechseln mit zweikampfstark.
Keine Macht im Zweikampf
Denn so ganz unbegründet ist der Ruf von Carlos als “nicht ganz so guter” Verteidiger nicht. Mit seinem intelligenten Spiel kaschierte er meistens seine Schwächen im defensiven Zweikampf.
Der inzwischen 46-jährige timete seine Tacklings auf ausbaufähigem Niveau. Dabei war es nahezu absurd, wie er in völlig ungefährlichen Situationen zu hochriskanten Grätschen ansetzte.
Somit kommt auch sein Schnitt von 5 Spielen pro gelber Karte in der spanischen Liga zustande.
Für einen Linksverteidiger, der bei einem Topteam spielt und selten in Zweikämpfe verwickelt wird, ein hoher Wert.
Hinzu kamen offensichtliche Defizite im Kopfballspiel. Mit 1,68m war der Brasilianer wahrlich kein Hüne. Zwar war seine Sprungkraft stark (kein Wunder bei den Beinen), doch sein Timing maximal mittelmäßig.
Wenn nicht mit Technik, dann mit der Brechstange
Carlos Spiel mit Ball war durch eine enorme Aktivität geprägt. Dabei überdrehte er jedoch in seinen Entscheidungen das ein oder andere Mal. An schlechten Tagen war der Brasilianer ein “Kopf durch die Wand Spieler”.
Dann legte sich der 125- fache Nationalspieler den Ball auch mal 25 Meter Richtung Grundlinie vor und sprintete in vollem Tempo hinterher.
Der Großteil seiner Gegenspieler war langsamer als er, trotzdem war dies leicht zu verteidigen. Selbst bei erfolgreichem Durchbruch hatte sich Carlos an der Außenlinie isoliert und konnte nur noch unkontrolliert flanken.
Roberto Carlos – eine Urgewalt
Doch trüben die Defizite von Roberto Carlos seinen Gesamteindruck kaum. Der Mann, bei dem selbst kopfballschwache Spieler lieber im Strafraum verteidigten als in der Freistoßmauer zu stehen, lieferte ein Jahrzehnt Höchstleistungen.
Unermüdlich beackerte er die linke Außenbahn und vernachlässigte trotz enormen Offensivdrangs seine defensiven Pflichten nicht.
In der Fußballgeschichte gibt es kaum einen Außenverteidiger, welcher dermaßen großen Einfluss auf das Spiel seiner Mannschaft hatte.
Als Carlos 2016 seine Schuhe als Spielertrainer bei den Delhi Dynamos endgültig an den Nagel hing, war es das Ende einer großen Karriere.
Selten verband ein Außenverteidiger solch brachiale Gewalt mit einem feinen Füßchen, hoher Athletik und guter Spielintelligenz.
Roberto Carlos da Silva Rocha – offensiv eine Urgewalt, defensiv unterschätzt.